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Anke Tresch: «Das Bedürfnis nach Sicherheit wächst auch in der Schweiz»

Anke Tresch
Anke Tresch ist Professorin für Politikwissenschaften an der Universität Lausanne. Ihre Forschungsschwerpunkte sind u.a. politische Kommunikation und Wahlkämpfe. Felix Imhof

Die Grünen stürzen ab – und mit ihnen die linken Kräfte im Parlament. Die Schweizerische Volkspartei hingegen kann fast ein Rekordergebnis einfahren; die Weltlage hat ihre Basis mobilisiert, sagt die Politologin Anke Tresch.

SWI swissinfo.ch: Rechts legt zu, grün sackt ab, und zwar beide mehr als prognostiziert. Je nach Medium ist das nun ein Rechtsrutsch oder die übliche Korrektur nach einer grösseren Umwälzung. Wie ordnen Sie die Resultate ein?

Anke Tresch: Es ist ein Rechtsrutsch im Vergleich zu den Wahlen 2019. Vielleicht weniger jedoch, wenn man weiter zurückblickt: Zwischen 2015 und 2019 hat die SVP zwölf Sitze verloren. Jetzt hat sie neun dazugewonnen, also nicht die gleiche Stärke erreicht wie 2015.

Wenn man das rechte Lager zusammenzählt, FDP, SVP und rechte Kleinparteien, hatten sie damals eine knappe Mehrheit von 101 Sitzen im Nationalrat. Auf dieses Resultat kommen sie nicht mehr.

Aber insgesamt wurde die politische Rechte gegenüber der letzten Legislatur deutlich gestärkt: Im Kanton Genf hat die rechte populistische Bewegung MCG mit plus zwei Sitzen sehr gut abgeschnitten. Die Lega konnte sich halten im Tessin. Und die EDU hat auch einen Sitz dazugewonnen.

Es ist also auch eine generelle Schwächung der Linken?

Ja, das ist sicher so. Die Grünen haben zwar weniger Sitze verloren, als man aufgrund der Prozentzahlen hätte vermuten können. Aber es hat nicht nur einen Wählertransfer zwischen den Grünen und der SP gegeben – die Grünen haben fünf Sitze verloren, die Sozialdemokraten zwei zusätzlich gemacht, da fehlt etwas. Die linksaussen Parteien haben zudem die zwei Sitze, die sie in der letzten Legislatur kriegten, verloren. Unter dem Strich wurde das linke Lager geschwächt.

Der israelisch-palästinensische Krieg, der Krieg in der Ukraine – wie stark hat das Bedürfnis nach Sicherheit die Wahlen beeinflusst?

Es ist schwierig, das zu beziffern. Aber grundsätzlich ist es so, dass in Zeiten globaler Krisen – wenn Themen wie Krieg, Sicherheit, Einwanderung und Asyl an Bedeutung zunehmen – die Nervosität und das Bedürfnis nach Sicherheit steigen, auch in der Schweiz.

Und das stärkt traditionell die rechtsbürgerlichen Kräfte, allen voran natürlich die SVP, die sich seit Jahren auf diesen Themen klar positioniert. Man hat den Eindruck, dass dieses Mal vor allem bei der SVP die Mobilisierung besser gelang als bei den Wahlen 2019, als viele ihrer Wähler:innen im Kontext der Klima-Thematik einfach zu Hause blieben. Sie wurden jetzt wieder zum Urnengang motiviert, in einem Umfeld, das eben mehr ihren eigenen Sorgen und bevorzugten Themen entspricht.

Selbst bei den Auslandschweizer:innen konnte die SVP leicht zulegen, die Grünen haben stark verloren. Ein globaler Trend in Richtung Konservativismus?

Ja, den gibt es zumindest in Europa, wie beispielweise der Blick auf Deutschland zeigt, wo in den vergangenen Wochen verschiedene Landtagswahlen stattgefunden haben. Da haben sowohl die AfD als auch die CDU zulegen können. Natürlich ist da die Dynamik anders, weil mit dem System von Regierung und Opposition die Regierungsparteien gerne abgestraft werden, egal wer an der Macht ist. Aber grundsätzlich kann man einen Trend erkennen: Die Stärkung der konservativen Kräfte.

Die SVP hat auch ohne ihren Übervater Christoph Blocher ein sehr gutes Resultat eingefahren. Hat sie sich emanzipiert und braucht keinen Charismatiker mehr an der Spitze?

Man hat tatsächlich den Eindruck, dass das Personal mittlerweile gar nicht mehr so wichtig ist. Mit Marco Chiesa hat die Partei einen eher blassen Präsidenten – trotzdem konnte sie stark zulegen. Sie sind jetzt breiter aufgestellt, sind nicht mehr von einer Person abhängig, sondern es waren mehrere Köpfe, die diesen Wahlkampf erfolgreich gemanagt haben.

Es sind vor allem ihre Hauptthemen, die sie lautstark in den Vordergrund gestellt haben und die Widerhall gefunden haben inmitten dieser aussenpolitischen Lage. Nichtsdestotrotz: Im Hintergrund spielt natürlich Christoph Blocher weiterhin als Geldgeber eine Rolle.

Wie teilweise vermutet, hat die Mitte erstmals die FDP überholt hat. Was wird das für Auswirkungen haben?

Das war eines der spannenden Themen im Vorfeld. Es war nicht klar, ob man einfach die Wahlanteile von BDP und CVP zusammensetzen kann und dann auf das Endresultat der Mitte kommt. Aber es hat gut funktioniert, der Namenswechsel und die Zusammenschlüsse scheinen sich für die Partei wirklich ausgezahlt zu haben.

Die Mitte wird wohl als Königsmacherin im nächsten Parlament sitzen, denn wie gesagt kommen FDP und SVP im Nationalrat nicht auf eine Mehrheit. Es wird thematische Koalitionen geben und die Partei wird sich aussuchen können, ob und wie sie je nach Thema mit den Rechten oder mit den Linken zusammenarbeiten will. Allerdings: Das Mitte-Lager (also Die Mitte, EVP und GLP) ist insgesamt geschwächt, da die GLP mit sechs Sitzverlusten im Nationalrat erheblich zurückgeworfen wurde.

Im Ständerat kommt es bei zahlreichen Kantonen wie üblich noch zu einem zweiten Wahlgang. In welche Richtung wird sich das Stöckli entwickeln?

Im Ständerat ist es traditionell so, dass die Mitte und die FDP sehr stark vertreten sind. Und dass die SP und die SVP, die beiden Polparteien, die im Nationalrat die stärksten sind, deutlich unterrepräsentiert sind.

Das hängt damit zusammen, dass es Majorzwahlen sind, dass es also sehr auf die Personen darauf ankommt, die auch ausserhalb ihrer Partei mobilisieren müssen. Das gelingt Parteien, die sehr prononcierte Positionen einnehmen, weniger.

Für den Ständerat wurde eine weitere Schwächung der SP erwartet, es sieht jetzt aber gar nicht so schlecht aus für sie. So konnte die Partei beispielsweise überraschend in Neuenburg einen Sitz dazugewinnen.

In anderen Kantonen steht ein zweiter Wahlgang an, die Ausgangslagen sind unterschiedlich. Aber unter dem Strich konnte sie sich relativ gut halten. Und die SVP konnte ihre Vertretung auch im Ständerat verbessern.

Konservativer, weniger progressiv, aber nicht unbedingt wirtschaftsfreundlicher – widerspiegeln sich in den Resultaten isolationistische Tendenzen?

Grundsätzlich standen Wirtschaftspolitik und liberale Anliegen in diesem Wahlkampf nicht im Vordergrund. Die Wahlberechtigten haben sich insofern nicht in Bezug zu diesen Fragen positionieren müssen. Diese Fragen werden wohl später bei konkreten Sachgeschäften neu verhandelt werden müssen, im Parlament und je nachdem auch direkt bei Abstimmungen.

Dann wird man sehen, ob diese Stärkung der SVP sich auch bei diesen Fragen niederschlägt. Aber das muss nicht unbedingt so sein. Die SVP hat in der Vergangenheit auch schon zugelegt bei Wahlen. Das bedeutete jedoch nicht, dass sie danach bei Abstimmungen einfach durchmarschierte – oft folgte ihr die Bevölkerung bei ihren sachpolitischen Themen nicht.

Persönlich finde es ein bisschen traurig, dass die Frauenrepräsentation im Parlament zurückgeht. Das hängt damit zusammen, dass die SVP quasi als einzige Partei nicht mehr Frauen portiert hat bei diesen Wahlen – wenn sie gewinnt, geht halt der Frauenanteil entsprechend zurück.

Diese Entwicklung sollte man im Auge behalten, das war ja eines der grossen Merkmale der Wahlen von 2019. Die Gleichstellung spielte in diesem Wahlkampf denn auch weniger eine Rolle. Frauenrepräsentation gelingt nur, wenn Parteien auch Frauenkandidaturen aufbauen und unterstützen – das ist kein Automatismus

Im Dezember stehen die Gesamterneuerungswahlen für den Bundesrat an. Was erwarten Sie nach diesem Wahlgang?

In Bezug auf den Bundesrat erwarte ich keine Veränderungen. Lange wurde darüber diskutiert, ob die Grünen Anspruch auf einen Sitz hätten, das bleibt vorerst einmal chancenlos.

Bleibt die Frage der Mitte. Gemäss der Zauberformel – wenn man davon ausgeht, dass die vier stärksten Parteien im Bundesrat vertreten sind mit je zwei Sitzen für die drei grössten und einem Sitz für die kleinste – hätte sie Anspruch auf einen Sitz der FDP.

Aber die Mitte hat bereits gesagt, dass sie keine amtierenden Bundesräte abwählt, die Zusammensetzung der Regierung bleibt wohl vorerst bestehen. Die Frage wird sich wohl erst bei einer Vakanz ergeben, wenn einer der zwei FDP-Sitze frei wird. Ich glaube, dann wird sie angreifen.

Hier finden Sie die Nachwahlanalyse der Eidgenössischen Wahlen 2023:

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