Ein neuer Deal und viele Fragen: Wird Schweden jetzt Nato-Mitglied?
(Keystone-SDA) Ist Schwedens Weg in die Nato nach einer langen Hängepartie endgültig frei? Pünktlich zum Beginn des Gipfeltreffens in Litauen hat Nato-Generalsekretär Jens Stoltenberg ein Ende der türkischen Blockade der Bündniserweiterung angekündigt. Präsident Recep Tayyip Erdogan hat demnach bei einem Treffen mit dem schwedischen Regierungschef Ulf Kristersson zugestimmt, das für die Aufnahme Schwedens nötige Beitrittsprotokoll so bald wie möglich dem türkischen Parlament zur Zustimmung vorzulegen.
Ob es nun wirklich schnell geht, ist allerdings ungewiss. Denn Erinnerungen an eine ähnliche Absprache kurz vor dem Nato-Gipfel im vergangenen Jahr werden wach.
Was genau ist jetzt passiert?
Stoltenberg, Kristersson und Erdogan verhandelten am Montagabend mehrere Stunden lang darüber, wie auf türkische Vorbehalte gegen Schwedens Nato-Aufnahme eingegangen werden kann. Kristersson stimmte letztlich einer umfangreichen Erklärung zu. Schweden verpflichtet sich demnach, einen Plan für die Terrorismusbekämpfung vorzulegen. Damit reagiert das Land auf den Vorwurf der Türkei, nicht ausreichend gegen «Terrororganisationen» wie die verbotene kurdische Arbeiterpartei PKK vorzugehen – zusätzlich zu bereits erfolgten Schritten.
Zudem erklärt sich Schweden unter anderem zu einer verstärkten wirtschaftlichen Zusammenarbeit bereit und sagt der Türkei zu, eine Wiederbelebung des auf Eis liegenden EU-Beitrittsprozesses aktiv zu unterstützen. Gleiches gilt für die Verhandlungen über eine Ausweitung der Zollunion und Visumfreiheit für türkische Staatsbürger, die ebenfalls seit Jahren nicht vorankommen. Wenige Stunden zuvor hatte Erdogan die Zustimmung seines Landes zur Aufnahme Schwedens überraschend davon abhängig gemacht, dass der Prozess zum EU-Beitritt der Türkei wiederaufgenommen wird.
Sind beim Thema EU-Beitritt wirklich schnelle Fortschritte denkbar?
Nein. Die EU wirft der politischen Führung in Ankara seit Jahren vor, demokratische und rechtsstaatliche Standards zu missachten. Eine Aufnahme der Türkei in die EU gilt deswegen derzeit als illusorisch – auch wenn EU-Ratspräsident Charles Michel am Montag per Twitter nach einem Treffen mit Erdogan Entgegenkommen signalisierte und ankündigte, es sollten Möglichkeiten ausgelotet werden, wieder enger zu kooperieren und den Beziehungen neue Energie zu geben.
Warum stimmt Erdogan dann trotzdem dieser Erklärung zu?
Das ist unklar. Erdogan selbst äusserte sich zunächst nicht öffentlich zu der Einigung. Eventuell konnte er die Blockadehaltung aus wirtschaftlichen Gründen nicht länger aufrechterhalten – und will die Zugeständnisse Schwedens nun kurzfristig als Erfolg verkaufen. Die regierungsnahe Zeitung «Sabah» schrieb am Dienstag von einem «diplomatischen Sieg». Grundsätzlich braucht Erdogan die Hilfe des Westens, um neue Investitionen zu mobilisieren. Die Türkei kämpft mit massiver Inflation und steht ausserdem vor der Mammutaufgabe, nach den zerstörerischen Erdbeben im Februar den Wiederaufbau in den betroffenen Regionen zu finanzieren.
US-Präsident Joe Biden will nach Angaben seines nationalen Sicherheitsberaters Jake Sullivan zudem den Verkauf von F-16-Kampfjets an die Türkei vorantreiben. Auch wenn die US-Regierung in der Vergangenheit einen Zusammenhang mit dem Nato-Beitritt Schwedens verneint hat, kann Erdogan auch dies als Erfolg verkaufen.
Was bedeutet der Deal für die Nato?
Für das Bündnis ist all das eine grosse Erleichterung. Das Gipfeltreffen in Vilnius an diesem Dienstag und Mittwoch drohte vom Streit über die Blockade des schwedischen Beitritts überschattet zu werden.
Wie kann es jetzt weitergehen?
Im Idealfall für Schweden übermittelt Erdogan das Beitrittsprotokoll nun wirklich in Kürze an das türkische Parlament und die Abgeordneten stimmen noch vor der parlamentarischen Sommerpause zu. Dann könnte Schweden im Herbst 32. Bündnismitglied sein. Weil der Gesetzesentwurf aber zunächst noch durch eine Kommission geschleust werden müsste, erwarten Beobachter, dass sich das Parlament nicht vor Donnerstag damit befasst.
Aufgrund früherer Erfahrungen mit Erdogan gibt es aber auch Befürchtungen, dass er irgendwann eine andere Interpretation der Abmachung reklamieren könnte – und dann zum Beispiel fordert, dass sich Schweden noch vor der Zustimmung des türkischen Parlaments aktiv für eine EU-Mitgliedschaft seines Landes einsetzen muss. Auch vor dem Nato-Gipfel im vergangenen Jahr sah es schon einmal so aus, als wäre die türkische Blockadehaltung passé und der Weg für Schwedens Mitgliedschaft frei – was dann aber doch nicht der Fall war: Die von Stoltenberg verkündete Einigung erwies sich als Trugschluss.
Ungarn – das einzige Nato-Mitglied neben der Türkei, das Schwedens Beitrittsprotokoll noch nicht ratifiziert hat – signalisierte derweil, die Aufnahme der Skandinavier billigen zu wollen. «Der Abschluss des Ratifizierungsprozesses ist eine rein technische Frage», schrieb Aussenminister Peter Szijjarto auf Facebook. Angaben dazu, wann das Parlamentsvotum erfolgen könnte, machte er aber nicht.
Was steht für Schweden auf dem Spiel?
Solange das skandinavische EU-Land nicht Nato-Mitglied ist, kann es im Fall eines Angriffs von aussen nicht militärischen Beistand nach Artikel 5 des Nato-Vertrags einfordern. Zugleich dürften allzu grosse Zugeständnisse an die Türkei innenpolitische Risiken bergen und Gegnern der Nato-Mitgliedschaft in die Hände spielen. Schweden hatte wie Finnland erst im Frühjahr 2022 unter dem Eindruck des russischen Angriffskriegs gegen die Ukraine die Mitgliedschaft in der Nato beantragt. Zuvor hatten beide Länder jahrzehntelang um einen breiten Konsens in der Frage gerungen und wegen gespaltener Meinungen im Volk und in der Politik stets auf einen Aufnahmeantrag verzichtet.
Und für die Nato?
Eine Bündnis-Erweiterung würde nach Ansicht von Militärexperten der Verteidigung in Nordeuropa zugutekommen. Der Beitritt wäre demnach insbesondere aus strategischen Gründen attraktiv, weil dann die gesamte Ostseeküste – mit Ausnahme der Küste Russlands und seiner Exklave Kaliningrad – Nato-Gebiet wäre. Damit könnte zum Beispiel die Verteidigung des Baltikums im Fall eines russischen Angriffs erleichtert werden, weil Truppen und Ausrüstung künftig deutlich einfacher per Schiff über Schweden nach Estland, Lettland und Litauen gebracht werden könnten. Dabei spielt insbesondere die grosse schwedische Ostseeinsel Gotland eine Rolle.