Ein Projekt aus den Wurzeln des Glaubens
Das Ehepaar Piergiorgio und Simonetta Tami lebt seit 15 Jahren in Kambodscha. Sie haben ein Netzwerk für randständige Frauen aufgebaut, das Modellcharakter hat.
Die beiden Tessiner haben die Schweiz 1982 verlassen. Ihr Ziel war es, den Schwächsten zu helfen und die Botschaft des Evangeliums umzusetzen.
«Wir hatten Ersparnisse zur Seite gelegt, mit denen wir ein Jahr leben konnten. Und wir waren überzeugt, in dieser Zeit eine nützliche Aufgabe zu finden», erzählt Simonetta Tami im Gespräch mit swissinfo.
«Inzwischen liegt unsere Emigration 25 Jahre zurück und Kambodscha ist unsere neue Heimat geworden», ergänzt die 47-Jährige beim Kaffee auf der Terrasse des Foreign Correspondents Club von Phnom Penh.
Die Hitze ist hier fast unerträglich. Die tropische Feuchtigkeit zwingt die Leute dazu, sich langsam zu bewegen. Alles erscheint wie eine Kopie des Flusses Mekong, der langsam dahin fliesst.
«Lassen Sie sich nicht von der Ruhe täuschen: Die kambodschanische Gesellschaft ist immer noch voller Gewalt, vor allem gegenüber Frauen. In einigen ländlichen Gebieten hat die Frau eigentlich keinen Wert. Wir haben sofort verstanden, dass viele Frauen Hilfe brauchten.»
Dem Schicksal gefolgt
Rückblende: Die Tamis wuchsen in der Schweiz in sehr katholischen Verhältnissen auf. Sie begannen zu reisen. Und der tiefe Graben zwischen der Schweiz und den armen Ländern des Südens beschäftigte sie. 1982 gaben die beiden ihre guten Positionen bei Swissair und Credit Suisse auf, um einen «Schritt des Glaubens» zu wagen, wie sie sagen.
«Wir waren immer davon überzeugt, dass das Evangelium nicht nur schöne Worte sind, sondern auch Handeln bedeutet. Wir wollten praktisch tätig werden», erinnert sich Simonetta Tami. Zuerst begaben sich die beiden Tessiner nach Japan. In der Nähe von Osaka arbeiteten sie in einer lokalen Hilfsorganisation für Randständige.
Es folgten Aufenthalte in Tong im Pazifik und in Singapur. Dann kamen die Tamis schliesslich nach Kambodscha, «Wir hatten kein genaues Ziel, sondern sind einfach dem Schicksal gefolgt», meint Simonetta Tami. Doch jeder Schritt habe die Richtung ihres gemeinsamen Weges klarer gemacht.
Ein schwieriger Anfang
Mit der Zeit wuchs die Familie. Bei der Ankunft in Phnom Penh 1993 haben die Tamis drei Töchter. Das Land ist zu diesem Zeitpunkt noch nicht vollkommen befriedet, doch die Familie versucht so normal wie möglich zu leben.
«Die Situation war damals sehr gespannt. Viele Leute zogen bewaffnet durch die Stadt, Morde waren an der Tagesordnung. Oft hatten wir Angst», erinnert sich Simonetta Tami.
«Mit der Zeit schafften wir es aber, ein Kontaktnetz aufzubauen. Unsere Töchter besuchten die einzige internationale Schule, die damals existierte. Und sie konnten unter guten Umständen aufwachsen.»
In der Zwischenzeit hatten die Tamis das Projekt Hagar lanciert, das sich um verstossene beziehungsweise verwahrloste Frauen kümmerte. Mit der Unterstützung einiger lokaler Helfer boten sie diesen ein Dach über dem Kopf und Beratung an.
«Nach Ladenschluss blieben am Abend nur diese verzweifelten Geschöpfe auf der Strasse. Viele von ihnen waren gemeinsam mit ihren Kindern von zu Hause vertrieben worden und hatten alles verloren. Wir boten ihnen Hilfe an, um ein neues Leben aufzubauen.»
Beratung und Ausbildung
Seither hat die Organisation viel erreicht. Vor allem dank der finanziellen Unterstützung durch den Tessiner Verein ABBA konnte seit 1994 rund 100’000 Frauen und Kindern zu einem Neuanfang verholfen werden.
Inzwischen verfügt die Organisation Hagar über ein Jahresbudget von 2 Millionen Dollar und hat ihre Aktivitäten auf «soziales Business» ausgedehnt.
Konkret bedeutet dies, dass viele Frauen eine einfache Ausbildung erhalten und so in einem der Geschäftszweige des sozialen Unternehmens eingesetzt werden können: Hagar Soja (Produktion von Soja-Milch), Hagar Design (Seidenprodukte für den Haushalt) und Hagar Catering (Nahrungsmittel-Service für Unternehmen und Hotels).
Im Jahr 2006 erhielten Piergiorgio Tami und Simonetta Tami für ihre Aktivitäten in Kambodscha den Brandenburger-Preis, ein Art Schweizer Nobelpreis für humanitäres Engagement. «Diese Anerkennung hat uns sehr gefreut. Denn der Preis hat aufgezeigt, dass wir eine seriöse Sache aufgezogen haben, nachdem unsere Anfänge sehr amateurhaft gewesen waren.»
Eine Brücke über den Graben
Tatsächlich hat das Engagement der Tamis eine kleine Brücke zwischen der Schweiz und Kambodscha gebaut – zwei Antipole sind dadurch etwas näher gerückt. Aber war können zwei so unterschiedliche Völker und Kulturen voneinander lernen?
«Die Kambodschaner können von den Schweizern lernen, die Dinge gut zu machen, möglichst sogar die Besten zu sein», meint Simonetta Tami. «Umgekehrt können wir Schweizer von den Kambodschanern lernen, nicht aufzugeben und weiter zu machen. Auch in scheinbar ausweglosen Situationen schaffen es die Leute hier, ein neues Kapitel aufzuschlagen und… zu überleben.»
swissinfo,Marzio Pescia, Phnom Penh
(Übertragung aus dem Italienischen: Gerhard Lob)
In Kambodscha leben rund 100 Schweizer Bürger.
Insgesamt sind im Ausland 645’100 Schweizerinnen und Schweizer registriert.
Das Projekt Hagar wurde 1994 von Piergiorgio Tami (inzwischen auch Honorarkonsul der Schweiz in Kambodscha) und seiner Frau Simonetta gegründet. Sie bieten ausgestossenen Frauen und ihren Kindern, die verwahrlost auf den Strassen von Phnom Penh leben, Hilfe an. Oft waren diese Opfer von Gewaltverbrechen oder Menschenhandel.
Hagar wird finanziell vor allem durch Spenden aus der Schweiz unterstützt. Die Organisation bietet Schutz für Frauen an, ist inzwischen aber auch ein Erziehungs- und Ausbildungszentrum geworden. Seit Gründung von Hagar wurde 100’000 Personen geholfen.
Zur Zeit erhalten 174 Frauen eine Berufsausbildung; 300 Frauen sind in den drei Wirtschaftszweigen des Projekts beschäftigt.
Hagar ist heute eine internationale Nicht-Regierungsorganisation (NGO) mit einem Jahresbudget von 2 Mio. Franken. Das Ehepaar Tami will die Aktivitäten auf andere Länder wir Vietnam, Nepal und Afghanistan ausweiten.
75% der 12 Millionen Einwohner Kambodschas haben keinen Zugang zu Trinkwasser.
Die Kindersterblichkeit ist mit 95/1000 eine der höchsten in ganz Asien.
16% der Frauen werden Opfer von häuslicher Gewalt.
60% der Frauen können weder lesen noch schreiben.
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