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«Hunger und Kindersterblichkeit sind zurückgegangen, die strukturelle Unterdrückung bleibt»

Zwei ältere Frauen
Anne-Marie Holenstein und Regula Renschler gehörten zu den ersten Mitarbeiterinnen der Erklärung von Bern. swissinfo.ch

Vor 50 Jahren politisierte die "Erklärung von Bern" engagierte Christen und schärfte das Bewusstsein für Entwicklungspolitik, die mehr als Fürsorge ist.

«Sie bitten den Bundesrat, alles zu tun, was die Schweiz aus ihrem Skeptizismus und unentschiedenen Zögern hinsichtlich der Hilfe für die Dritte Welt herausführen kann(…)», heisst es in der ursprünglichen Erklärung von Bern EvB aus dem Jahr 1968. Aus der Dynamik hinter diesem Manifest ging eine NGO mit demselben Namen hervor, die bis heute als Lobby-Organisation für Entwicklungspolitik und globale Gerechtigkeit tätig ist – seit zwei Jahren allerdings unter dem neuen Namen Public Eye.

Im Gespräch mit swissinfo.ch erinnern sich Anne-Marie Holenstein und Regula Renschler, die zu den ersten Mitarbeiterinnen der EvB gehörten, an die Ursprünge der NGO.

swissinfo.ch: Frau Holenstein, Theologen haben die Erklärung von Bern geschrieben; in den ersten Jahren stützte sich auch der EvB massgeblich auf Netzwerke der christlichen Ökumene. Weshalb hatte die EvB ihre Basis in christlichen Kreisen?
Anne-Marie Holenstein:
Das Manifest entstand eigentlich aus Enttäuschung gegenüber der offiziellen Kirche. Kritische Theologinnen und Theologen, unter ihnen André Biéler, erkannten in den 1960er-Jahren die politische Dimension der christlichen Sozialethik. Sie betrachteten Kolonialisierung und Industrialisierung aus der Perspektive des Evangeliums. In Lateinamerika begannen deklassierte Bevölkerungsgruppen, die Bibel als Gesellschaftskritik zu verstehen. Theologen aus den Ländern des Südens erhoben am World Council of Churches ihre Stimme und wurden gehört. Das führte zu einer befreienden Theologie. Die Theologen hinter der Erklärung von Bern, allen voran Biéler, erlebten das nahe mit – und haben mit der EvB sowohl Inhalte als auch Denkweise dieser Theologie in die Schweiz gebracht.

swissinfo.ch: Die Armenfürsorge war aber seit Jahrhunderten Kirchenaufgabe.

A.H.: Hier in der Schweiz dominierte ein sehr individualistisches Christentum, Gott und ich. Die Fürsorge war ebenfalls in diesem Denken gefangen: Wir helfen ihnen. Die Verfasser der EvB sagten hingegen: Es braucht strukturelle und politische Veränderung. Wir machen ausserhalb der Kirchen ein politisches Manifest. Nicht um die Kirche zu bekehren, sondern um die Zivilgesellschaft zu wecken.

swissinfo.ch: Die Unterzeichner der Erklärung von Bern verpflichteten sich, 3% ihres Einkommens für Entwicklungshilfe zu spenden. Das erinnert an den biblischen Zehnten – und damit auch ein bisschen an Fürsorge.
A.H.: Viele politisierten sich erst durch die EvB. Das hat bei der einen oder dem anderen also sicher mitgespielt, als sie unterzeichneten. Themen zuzuspitzen und konkrete Handlungsmöglichkeiten anzubieten, war schon immer eine Stärke der EvB, zum Beispiel in unserer Jute statt Plastic-Kampagne in den 1970ern. Man bietet eine Aktionsmöglichkeit an: den Verkauf von fair produzierten Jutetaschen. Aber wer sie verkaufen wollte, musste erst unsere inhaltliche Schulung besuchen. Zur Bewusstseinsbildung ist diese Struktur eine gute Form.

Historische Fotografie Versand Jutesäcke in Bangladesh
Jute-statt-Plastik-Kampagne: Die Erklärung von Bern liess in Bangladesch dafür eigens Jutesäcke produzieren – natürlich unter fairen Bedingungen. Schweizerisches Sozialarchiv

Regula Renschler: Davor war der bestimmende Ansatz bei Kirchen und Hilfswerken: Wir wollen den Menschen in der Dritten Welt helfen, damit sie den Anschluss an die industrialisierte Welt finden. Anders ausgedrückt: Damit sie werden wie wir. Bald lösten die Devisen «Hilfe zur Selbsthilfe» und «Trade not Aid» diesen Ansatz ab.

A.H.: Man sprach tatsächlich von «unterentwickelten Ländern». Der Begriff «Dritte Welt» ist heute überholt, aber er beruht wenigstens auf Strukturanalysen.

R.R. Wie voreingenommen wir im Westen die ganze Welt betrachteten, lehrten uns Intellektuelle aus dem Süden, unter ihnen Frantz Fanon, Hélder Câmara und Paulo Freire. Durch sie sahen wir erst die Zusammenhänge zwischen Rassismus und Unterdrückung. In den sechziger Jahren herrschte in Südafrika noch immer das Apartheidregime und die Segregation in den Südstaaten der USA. Der brasilianische Pädagoge Paulo Freire, der für meine Arbeit bei der EvB sehr wichtig war, erkannte, dass Herrschaftsstrukturen über Erziehung weitergegeben und verfestigt wurden. Es war eine Erziehung zur Anpassung, die die Bevölkerung dazu bringen sollte, sich in das herrschende System einzuordnen. Freire entwickelte ein Konzept der Erziehung zur Befreiung. Zur Emanzipation, die von der Lebenswirklichkeit der Menschen ausging.

swissinfo.ch: Frau Renschler, als Sie 1962 Ihre Stelle in der Auslandredaktion des Tages-Anzeigers antraten, habe man Ihnen die Berichterstattung über die Dritte Welt überlassen, weil sie niemand anders wollte. Stimmt das?
R.R.: Ja, als wichtig galten damals Deutschland, Frankreich und die USA. Damals herrschte der kalte Krieg. Der Süden geriet erst nach und nach ins öffentliche Interesse. Im Jahr 1960 als die letzten afrikanischen Kolonien – abgesehen von den portugiesischen – unabhängig wurden, erwarteten viele, dass die Welt gerechter und freier werde. Die Ernüchterung folgte kurz darauf. Die Kolonialmächte waren nicht gewillt, auf die Bodenschätze in den ehemaligen Kolonien zu verzichten. Das zeigten die Kongokriege, die Ermordung Lumumbas, der Bürgerkrieg in Nigeria, der Kampf um Biafra. Dazu kam, dass der Westen befürchtete, dass die Dritte Welt kommunistisch werde. Die Dritte Welt rückte durch diese Vorgänge in den Fokus.

swissinfo.ch: Haben Sie das Gefühl, dass Sie persönlich auch von dieser westlichen Perspektive und Normen geprägt waren?
A.H: Ganz stark! Ich bin in einem Katholizismus aufgewachsen, der die Aufklärung noch nicht vollzogen hatte. Meine Emanzipation war ein Prozess, den die Arbeit bei der EvB beschleunigte.

R.R.: Wir versuchten das, was wir in der EvB sagten, auch im persönlichen Umfeld umzusetzen. 1968 hat uns geprägt. Meine Familie ist in eine Hausgemeinschaft umgezogen, wir haben einen privaten Kindergarten gegründet und auf lokale Ernährung gesetzt. Anne-Marie hatte für die EvB einen tollen Prospekt geschrieben, wo bereits drinstand, was im Ernährungsbereich bis heute aktuell ist. Die Vereinbarkeit von Beruf und Familie allerdings wurde öffentlich noch wenig debattiert. Die Lösungen waren uns Müttern selbst überlassen, das war oft schwierig.

A.H: Ich erinnere mich, wie einmal an einer Sitzung alle Männer loslachten, als einer sagte, er könne an dem Datum nicht, denn er müsse seine Töchter hüten. Die lachten einfach… so war das damals. Entwicklung heisst Befreiung! Das galt auch für uns selbst.

R.R.: Unterdrückungsmechanismen funktionieren immer gleich. In den sechziger Jahren wurde uns bewusst, dass es dieselben Mechanismen sind, mit denen in den armen Ländern des Südens die Massen unterdrückt und in der Schweiz den Frauen das Stimmrecht verwehrt wurden.

swissinfo.ch: Glaubten Sie damals, Teil einer Bewegung zu sein, die die Welt ändert?

A.H: 1974 sagte sogar Henry Kissinger an der Welternährungskonferenz in Rom: Bis ins Jahr 2000 wird kein Kind mehr hungrig ins Bett gehen. Ich war im Saal. Und selbst glaubte ich auch, dass alles immer besser wird… Das musste ich revidieren. Hunger, Kindersterblichkeit und Analphabetismus sind in Zahlen zwar zurückgegangen, aber die strukturelle Unterdrückung ist geblieben.

R.R.: Mittlerweile sind auch in ärmeren Ländern Eliten entstanden, die als Parallelgesellschaften auf westlichem Niveau leben, während die Massen weitgehend arm und ungebildet bleiben. Da kann man Freire einbringen: Die Eliten haben kein Interesse, dass die Massen Zugang zu Bildung erhalten. Sonst könnten sie rebellieren und Veränderungen verlangen.

Aktion
1988. Demonstration vor dem Hauptsitz der SKA in Zürich gegen die Unterstützung der Schweizer Banken für das Apartheidregime in Südafrika. Schweizerisches Sozialarchiv


swissinfo.ch: Was verbindet das heutige Public Eye mit der EvB der ersten Jahre?
R.R.:
Es gibt viele Linien, die geblieben sind. Zum Beispiel, das Konzept Information mit Bewusstseinsbildung sowie politische Forderungen mit Handlungsangeboten zu verbinden.
A.H: Die EvB hat anfangs aber vor allem anhand von einzelnen Produkten, etwa Jutesäcken und Pulverkaffee, symbolisch aufgezeigt, wie fairer Handel aussehen würde: So dass Entwicklungsländer ihre Produkte selbst verarbeiten, exportieren und Handel treiben.  Erst später wählten wir die radikalere Variante. Anfang der 1980er-Jahre flogen wir einen Zeugen aus den Philippinen ein, hielten eine Pressekonferenz ab und klagten die Grossverteiler an. Wir zeigten auf, wie die Büchsenananas im Ladenregal Umweltzerstörung, Landenteignung und Verarmung verursacht. Diese Methode wendet Public Eye heute immer noch an, etwa in der Auseinandersetzung mit dem Rohstoffhändler Glencore.

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