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Wie 1914 das Leben in der Schweiz veränderte

"An die Nähmaschinen!", hiess es 1914, als der Erste Weltkrieg ausbrach und Frauen für die mobilisierten Schweizer Wehrmänner Uniformen schneidern mussten. Schweizerisches Bundesarchiv

Die ersten Autos ratterten über unbefestigte Staubstrassen, in den ersten Telefonleitungen knisterte und knackte es, Trams fuhren durch stark wachsende Städte: Die Schweiz von Anfang 1914 war dynamisch und aufstrebend. Der Krieg aber brachte Furcht und Ungewissheit ins neutrale Land.

Vor 100 Jahren gehörte die Schweiz in Europa zu den am höchsten industrialisierten Ländern: Mit ihren 3’828’431 Einwohnern stellte sie gerade 1% der Bevölkerung Europas, war aber verantwortlich für 3% aller europäischer Exporte.

Die Erschiessung des österreichischen Thronfolgers Erzherzog Franz Ferdinand und seiner Frau am 28. Juni 1914 in Sarajevo setzte einen Monat eines verzweifelten diplomatischen Ringens zwischen Österreich-Ungarn, Deutschland, Russland, Frankreich und Grossbritannien in Gang. Am 28. Juli erklärte Österreich-Ungarn Serbien den Krieg.

Es war der Auftakt zu einem jahrelangen, blutigen Reigen, dem fast zehn Millionen Soldaten und rund sieben Millionen Zivilisten zum Opfer fielen. 20 Millionen Soldaten wurden verwundet und trugen teils schwerste Verletzungen davon.

Das Attentat und seine Folgen veränderten das Leben auch in der Schweiz dramatisch. Sie mobilisierte ihre Soldaten am 2. August, am Tag darauf wurde die Schweizer Neutralität ausgerufen. Alle Männer zwischen 20 und 48 Jahren wurden eingezogen. Durch das Land ging eine Welle des Patriotismus, gleichzeitig aber auch ein tiefer Graben: während die Westschweiz mit Frankreich sympathisierte, unterstützte die Deutschschweiz den deutschen Kaiser.

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In den letzten beiden Wochen vor Ausbruch des Krieges verzeichnete die Statistik einen Rekordan Heiraten in der Schweiz.

Die neuen Pflichten der Frau

Am Tag der Mobilmachung äusserten sich auch die Schweizer Frauenorganisationen. «Macht den Männern ihre schwierige Aufgabe nicht noch schwerer, indem ihr euch über Massnahmen beklagt, die für die Verteidigung des Landes lebenswichtig sind», lautete der Aufruf an die Frauen.

Sparsamkeit, das Anlegen von Vorräten an Lebensmitteln und Brennstoffen, lautete der Ratschlag. «Übernehmt Verantwortung in allen Bereichen, insbesondere in der Arbeit auf den Feldern und in jenen Berufen, die Männer nicht ausüben können», war eine weitere Vorgabe. Die Frauen wurden aufgerufen, sich dem Land zur Verfügung zu stellen, um dort zu wirken, wo sie qualifiziert waren, aber insbesondere in den Amtsstuben der Behörden.

Während aber die Bewegung für das Frauenstimmrecht in Grossbritannien so richtig in Fahrt kam, mussten in der Schweiz die Frauen immer noch 57 Jahre warten, ehe sie erstmals an die Urne durften. 

Am 21. August appellierte auch der Schweizerische Bauernverband an die Frauen, sich für die Landwirtschaft einzusetzen, «welche die Schweiz vor dem Hunger retten muss».

Sie sollten besonders das Schweizer Rind- und Schweinefleisch kaufen, das infolge des Ausbleibens von Touristen einen Nachfrage-Einbruch erlebte. Metzger und Pensionen stellten sich dem Aufruf entgegen, weil Rindfleisch das teuerste Fleisch sei.

Angst vor Hunger

Die erste Furcht galt einer Invasion, die zweite dem Hunger. Die Schweizer Wirtschaft basierte auf der Einfuhr von Rohmaterialien, die zu Gütern verarbeitet und dann exportiert wurden. Die Abhängigkeit bezog sich aber auch auf Lebensmittel. Ohne Kohle aus Deutschland wäre die heimische Produktion stark eingeschränkt gewesen.

75% des Getreides kam aus Übersee, aber die Schweiz hatte keinen Meerzugang. Die Haupttransportader war der Rhein, und dieser stand unter deutscher Kontrolle.

Bei Kriegsbeginn verfügte die Schweiz über Getreidevorräte für zwei Monate. Pläne für eine grössere Vorsorge gab es nicht. Die Folge waren Panikkäufe, auf welche die kantonalen Behörden mit strengen Massnahmen reagierte: Wer Vorräte anlegte, wurde bestraft.

Verboten! 

Vom 8. August bis Ende September durften die Schweizer auch nicht in andere Schweizer Städte telefonieren oder Telegramme verschicken. Dies diente der Geheimhaltung der Truppenbewegungen.

Mitte August wurde Autofahren verboten. Ausnahmen gab es nur für Ärzte, militärischen Nachschub, Lebensmittelverkäufer, öffentliche Transporte und die Landwirtschaft.

Es zirkulierten aber erst 5410 Autos, je ein Viertel davon waren in Zürich und Genf registriert. Die Höchstgeschwindigkeit beschränkte sich auf 18km/h, die Geschwindigkeit einer Pferdekutsche. Übertretungen wurden mit Bussen bestraft.

Im November wurde das Benzin knapp, weil die USA und Österreich, die Hauptlieferanten, ihre Exporte stoppten. Was den Verkehr aber ebenso lichtete, war der Mangel an Pneus aus Gummi.

Schweiz von 1914 in Zahlen

3’828’431 Einwohner. Heute: 8’058’100 (Anfang 2013; +53%).

12% Ausländer. Heute: 23,3%.

5677 Personen wurden Bürger der Schweiz, die als sicherer Hafen galt. Höhepunkt war 1917 mit 12’752 Einbürgerungen. 3869 Personen wanderten aus.

Die Schweiz war nicht arm, dennoch betrugen die Kosten für Nahrungsmittel 43% der Haushaltbudgets. Heute sind es noch 9%.

Mütter hatten im Schnitt 2,93 Kinder; 2012 waren es noch 1,53.

Die durchschnittliche Lebenserwartung betrug für Frauen 56,8 Jahre und 53,5 Jahre für Männer (2012: 84,7 Jahre für Frauen, 80,5 Jahre für Männer).

Kindersterblichkeit auf 1000 Geburten: 101,6 für Knaben und 80,2 bei den Mädchen (2012: 3,7 resp. 3,5). Die höchste Rate wies der Kanton Freiburg mit 150,5 toten Kindern auf. Dies weil der katholische Kanton Hebammen nicht zuliess.

Verbreitet waren auch noch Diphterie (4051 Fälle) sowie 125 Fälle von Wochenbettfieber.

Zensur

Die Anspannung erfasste auch die Schweizer Presse. Im Oktober wurde das Genfer Satiremagazin Guguss für die restliche Dauer des Krieges verboten. Dafür wurde die Schweiz von Propagandamaterial überschwemmt, das sowohl von den Alliierten als auch von den Mittelmächten stammte.

In der Schweiz wurde auch die Publikation «A propos de la Guerre!» verkauft, mit dessen Erlös das Rote Kreuz unterstützt werden sollte. Westschweizer Zeitungen monierten aber, dass die Hefte in Deutschland gedruckt worden seien und ihr Inhalt die Mittelmächte unterstütze.

Im November kritisierten die Basler Nachrichten die Verteilung eines billigen deutschen Satiremagazins in den drei Landessprachen, weil es den Anschein erwecke, eine Schweizer Publikation zu sein. Dabei widerspiegle es die deutsche Position und ziele auf die Beeinflussung der Meinung in der Schweiz ab.

Es kam teils zu bizarren Amtshandlungen: Der Kanton Waadt hielt Lehrer zur Förderung der nationalen Moral an. Alles, was Bürger der Schweiz und kriegführender Staaten hätte beleidigen können, war verboten.

Im Oktober wurden in den Kantonen Appenzell und St. Gallen alle Tanzveranstaltungen für die Dauer des Krieges verboten. Dasselbe Verbot gab es auch im Kanton Zürich, es wurde aber im Dezember 1914 wieder aufgehoben. 

Schokolade für die Front

Im Oktober brachen die Bestellungen in der Uhrenindustrie ein. Ein britischer Abnehmer verweigerte die weitere Zusammenarbeit mit einem Neuenburger Hersteller, bis dieser beweisen könne, dass er weder Führungskräfte noch Beteiligungen aus Deutschland aufweise.

In La Chaux-de-Fonds, dem Zentrum der Schweizer Uhrenindustrie, herrschte eine hohe Arbeitslosigkeit, so dass die Behörden Tausende unterstützen mussten.

Die Bestellungen für Schokolade hingegen trafen unvermindert aus England, Deutschland und Frankreich ein, so dass die Schweizer Hersteller besorgt um den Nachschub an Kakao und Zucker waren.

Deutschland-Hass in der Westschweiz

Nach dem Einmarsch Deutschlands in Belgien flohen viele Belgier nach Frankreich, von wo aus sie in die französischsprachige Schweiz gelangen wollten.

Schweizer, die solche Flüchtlinge bei sich aufnehmen wollten, waren gebeten, sich bei einer privaten Organisation in Lausanne zu melden. Binnen weniger Wochen gingen dort hunderte Bewerbungen ein.

Diese Gastfreundschaft sorgte in der Deutschschweiz für Stirnrunzeln.

Das Berner Tagblatt riet den Flüchtlingen, in ihre Heimat zurückzukehren, um unter unter «verständnisvoller deutscher Verwaltung an der Normalisierung der Situation» arbeiten zu können.

In den französisch- und italienischsprachigen Teilen der Schweiz war die Presse erzürnt, dass die Regierung in Bern nicht offiziell gegen die Verletzung der belgischen Neutralität durch Deutschland protestierte. In manchen Berichten über die Massaker und Bombardierungen von Städten wurden die deutschen Soldaten mit den germanophoben Bezeichnungen wie «Hunnen» und «Boches» eingedeckt.

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Soldatenweihnacht

Menschen waren aber nicht die einzigen Kriegsopfer. Am 24. Dezember fand in Genf die erste internationale Konferenz zum Schutz von Tieren im Krieg statt. Ziel war gewissermassen eine «tierische Version» des Roten Kreuzes, mit eigenem Signet und eigener Uniform.

Legendär sind die Weihnachtsfeiern 1914, welche die Soldaten Deutschlands, Frankreichs und Englands gemeinsam in den Schützengräben abhielten. Die Schweizer Soldaten, obwohl im Aktivdienst, hatten es da doch um einiges gemütlicher. Es gab Weihnachtsbäume in den Unterkünften und Berge von Paketen, die an die Posten an der Grenze geschickt wurden.

Frauen aus der Westschweiz initiierten die Kampagne «Soldatenweihnacht»: Die Schweizer Wehrmänner, die an der Grenze standen, erhielten ermunternde rote Pakete mit einem weissen Kreuz drauf. Sie enthielten Schokolade, Kekse, Zigaretten und Zigarren, Tabak und eine Schachtel Streichhölzer.

Um die Moral zu stärken, waren auch zwei patriotische Lieder des Schweizer Komponisten Émile Jaques-Dalcroze beigegeben sowie eine Medaille aus Bronze mit dem Konterfei Wilhelm Tells und der Inschrift «Weihnacht unter Waffen».

Quellen zu diesem Artikel:

Anne-Françoise Praz/Gaston Malherbe: Un monde bascule: la Suisse de 1910 à 1919 (Editions Eiselé, 1991);

Statistisches Jahrbuch der Schweiz 1915 (Bundesamt für Statistik);

www.switzerland1914-1918.netExterner Link;

www.license-plates.ch.

Wichtige Ereignisse 1914 vor Kriegsausbruch:

Januar: Schaffung des Schweizerischen Nationalparks.

Januar: Zahlen der Schweizer Uhrenexporte 1913: über 180 Mio. Franken. Befürchtungen über die wachsende Konkurrenz aus Japan.

16. März: Tod des Politikers Albert Gobat, der 1902 zusammen mit Élie Ducommun den Friedensnobelpreis erhielt, die beide das Internationale Ständige Friedensbüro geleitet hatten.William Tell wird verfilmt. Eine Equipe aus Deutschland will 1913 in Altdorf im Kanton Uri Schillers Drama an den Originalschauplätzen filmen. Als sie Fabriken, Hotels, Züge und Telegraphenmasten erblickten, waren sie enttäuscht. Sie wichen auf das benachbarte, ursprünglichere Silenen aus. Dreharbeiten auf der Rütliwiese wurden ihnen verwehrt. «Aus Respekt vor unserer Vergangenheit», wie die Eigentümer begründeten. Die Schlussversion war zweieinhalb Stunden lang und kostete 100’000 Mark.

18. Juni: Der Schweizer Radrennfahrer Oscar Egg stellte in Paris mit 44,246km einen neuen Stundenweltrekord auf, der bis 1933 Bestand hatte.

Juli: In einem Bericht über die steigende Zahl von Ausländern in der Schweiz befürwortete die Regierung die Zwangseinbürgerung von Ausländern, die in der Schweiz geboren waren und deren Eltern mindestens zehn Jahre im Land gelebt hatten, deren Mutter Schweizerin war oder wenn ein Elternteil im Land geboren war.

12. Juli: Um eine Doppelbesteuerung zu vermeiden, siedelte die Industriefirma Sulzer ihren Hauptsitz vom Kanton Zürich in den Kanton Schaffhausen um. Der Wegzug wurde in Zürich sehr schlecht aufgenommen, und die Presse verlangte eine Änderung der Steuergesetze, um weitere Firmenwegzüge zu vermeiden.

(Übertragung aus dem Englischen: Renat Kuenzi)

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