«In der Schweiz zeigt man seine Armut nicht»
Ein Schweizer Paar organisiert auf Facebook private Hilfe für Menschen, die am Existenzminimum leben. Helfer verschenken Kleider, laden armutsbetroffene Familien in den Zoo ein oder gehen mit ihnen Lebensmittel einkaufen. Diese Art der Direkthilfe kommt in der Deutschschweiz gut an.
Alles begann mit der Liebe.
Nachdem Fabienne sich selbst aus den Schulden befreit hatte, wollte sie 2017 eine Selbsthilfegruppe für Verschuldete gründen. Auf Facebook schrieb sie den Administrator der Gruppe «Leben am Existenzminimum» an – Alessandro Menna. Diesem gefiel die Idee einer Selbsthilfegruppe, also trafen sie sich mehrmals zum Austausch. «Nebenbei merkten wir, dass wir uns mögen», sagt Fabienne lachend.
Inzwischen sind die beiden verheiratet. Und ihr Engagement haben sie ausgebaut: Sie gründeten den Verein SiidefadeExterner Link, der Armutsbetroffenen eine nachhaltige Unterstützung im Kampf aus der Armut bieten will. Eines der Ziele ist laut Website: «Egal woher ein Hilferuf kommt, sofort jemanden vor Ort zu wissen, der den Betroffenen die Hand reichen und die benötigte Hilfe zukommen lassen kann.»
Fabienne Menna erzählt, dass sie während ihrer Schuldenzeit genau gleich reagiert habe wie die meisten Armutsbetroffenen: «Man spricht mit niemandem darüber. Es gehört zur Schweizer Mentalität, niemandem zu zeigen, dass es einem finanziell nicht gut geht. Man schliesst sich selbst aus, indem man es ablehnt, dass Kollegen zahlen.» Man wolle den Schein wahren, bis es wirklich nicht mehr gehe. Das sei falsch: Man solle sich Hilfe holen und die Sache anpacken.
Helfer schätzen direkten Kontakt
Unter dem Slogan «gemeinsam statt einsam» verfolgt der Verein ein Konzept mit einem ganzheitlichen Lösungsansatz. Die Vernetzung zwischen staatlichen und privaten Hilfsangeboten spielt dabei eine ebenso grosse Rolle wie der direkte Kontakt zwischen Helfenden und Betroffenen. Via Facebook können Helfer Spielsachen, Kleider oder Möbel an Armutsbetroffene verschenken. Oder Helfer und Betroffene treffen sich für einen gemeinsamen Lebensmitteleinkauf, der vom Helfer bezahlt oder unterstützt wird.
«Es gab auch schon Helfer, die eine Familie in den Zoo, ins Fifa-Museum oder auf einen gemeinsamen Ausflug eingeladen haben», erzählt Alessandro Menna. Wenn eine überforderte Familie im Chaos versinkt, hilft auch mal jemand beim Aufräumen.
Fabienne Menna ergänzt: «Es braucht vor Ort gar nicht viel Geld, es reicht, mal jemandem im Haushalt oder beim Ausfüllen eines Formulars zu helfen. Eine kleine Geste kann viel bewirken.»
Es sei eine typisch schweizerische Art zu helfen, sagt Fabienne Menna. «Die Leute wollen wissen, wohin ihr Geld geht.» Und für die Betroffenen sei diese direkte Art der Hilfe ebenfalls schöner, weil sie merken, dass der Helfer sich engagieren will und nicht einfach Almosen verteilt.
Bürokratischer Sozialapparat
Diese Direkthilfe ist bei grösseren Schweizer Hilfsorganisationen wegen der Gefahr einer Abhängigkeit eher verpönt. «Wir begleiten Betroffene und stehen in regelmässigen Kontakt zu den Helfern. Bisher konnten wir keine dieser Probleme feststellen, im Gegenteil: Es sind auch schon einige Freundschaften entstanden», so Menna.
«Viele staatliche Stellen oder grosse Organisationen haben auch schlicht die Kapazität nicht, die Betroffenen eng zu begleiten», sagt Fabienne Menna. Der Schweizer Sozialapparat ist laut den Mennas sehr bürokratisch.
Auf Facebook sei auch schon die Frage aufgeworfen worden, warum Leute dort um Essen bitten müssten, es gebe in der Schweiz doch genug Hilfsangebote. «Auch ich habe die Mühlen der Bürokratie erst kennengelernt, als ich selbst darin steckte», sagt Fabienne Menna.
Wer ist in der Schweiz armutsbetroffen?
Ein weiteres Problem ist, dass viele Armutsbetroffene gar nicht Sozialhilfebezüger sind und daher keine behördliche Hilfe erhalten. Verschuldete oder Working Poor beispielsweise. «Es gibt auch viele Personen, die eigentlich gut verdienen und sich dennoch verschuldet haben», erzählt Fabienne Menna. «Diese erhalten keine Gelder.»
Armut beobachten die Mennas auch bei vielen geschiedenen Familien. Nicht nur alleinerziehende Mütter, sondern auch «Zahlväter» lebten häufig am Existenzminimum. «Männer zahlen teilweise extrem hohe Alimente, ihnen selbst bleibt kaum etwas», so Alessandro Menna.
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Altersarmut sei ebenfalls ein Phänomen: «Leute, die 40 Jahre gearbeitet haben, können mit ihrer Altersrente kaum überleben», sagt Fabienne Menna. «Für die Schweiz ist das ein Armutszeugnis.»
Lebensmittelpakete wegen Corona-Krise
Was hat die Corona-Krise verändert? «Leute, die vorher gut oder knapp durchkamen, sind aufgrund von Kurzarbeit, Stundenlohnanstellungen oder mangelnden Aufträgen in die Bredouille gekommen», sagt Fabienne Menna.
Als eine Gruppe Privater sich meldete und sagte, sie hätten per Crowdfunding Geld für eine Lebensmittelverteilaktion gesammelt, sagten die Mennas deshalb sofort Hilfe zu. Letzten Sonntag verteilten sie in der Tonhalle Maag in Zürich 500 Carebags mit Lebensmitteln und Hygieneprodukten.
Die Bilder aus Genf, wo Hunderte Menschen stundenlang Schlange standen, um einen Sack mit Essen im Wert von 20 Franken zu erhalten, haben die Initianten erschüttert.
«Wir wollten nicht, dass solche Bilder bei unserer Aktion entstehen», sagt Alessandro Menna. Sie achteten deshalb darauf, dass die Privatsphäre der Betroffenen gewahrt wurde. «Es braucht schon so viel Mut, sich anzustellen.»
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Die Nächte in den letzten drei Wochen waren kurz für die Mennas. Aber sie wirken glücklich. «Wir bekommen noch immer Dankesmails von den Betroffenen sowie von Personen, die von der Aktion gelesen haben», freut sich Menna.
Es sind nicht immer die Reichsten, die helfen
Alessandro Menna ist kaufmännischer Angestellter. Fabienne Menna hat sich mit einer Telemarketing-Agentur für die IT-Branche selbständig gemacht. Das kinderlose Paar kommt gut über die Runden, reich ist es aber nicht.
Sie stecken eigenes Geld und viel ehrenamtliche Arbeit in den Verein. Ein Teil der Unterstützung basiert auf direkten Lebensmittelspenden, sehr viel Freiwilligenarbeit und vielen Helfern. Um die Finanzierung der Aktivitäten sicherzustellen, möchten Alessandro und Fabienne Menna zukünftig Stiftungen sowie Private angehen. Die Corona-Aktion vom Wochenende wäre unmöglich gewesen ohne Spender, Sponsoren und freiwilligen Helfern.
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