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Familiengärten – bedrohtes soziales Labor

Ein Garten für jene, die keinen eigenen haben vor ihrer Haustüre, wie hier in Zürich. Keystone

Die Stimmberechtigten in Bern und Basel haben jüngst Wohnbau-Projekte gutgeheissen, die zum Verlust von Familiengärten führen. Diese "grünen Oasen" werden von ihren Pächtern hoch geschätzt, weil diese dort oft ihr soziales Umfeld haben, erklären Genfer Forscher.

In vielen Schweizer Städten setzen diese Grünflächen mit ihrer ganz eigenen Architektur Akzente in der urbanen Landschaft. Zu Pflanzen und Büschen kommen Lauben und Flaggen unterschiedlicher Nationen und sorgen für ein oft farbenfrohes Durcheinander.

Die Familiengärten, früher als Arbeiter-, Volks- oder Schrebergärten bekannt, stossen von Zürich bis Genf, von Basel bis Lausanne auf derart grosse Nachfrage, dass die Wartelisten für eine Parzelle praktisch immer voll sind.

Doch der «Gartenlaube könnte der Wind aus den Segeln» genommen werden, erklärt Arnaud Frauenfelder, Professor für Soziologie an der Fachhochschule für Sozialarbeit in Genf (Haute école de travail social, HETS). Mit seinen Kollegen Christophe Delay und Laure Scalambrin hatte Delay im Februar 2011 unter dem Titel «Das Angenehme mit dem Nützlichen verbinden – der Familiengarten und die Volkskultur» eine der seltenen Studien zu dem Thema veröffentlicht.

Wieso sind die Familiengärten bedroht, wenn sie doch in der Öffentlichkeit auf so grosses Interesse stossen? Dass die Gärten beliebt sind, haben die Kundgebungen zum Erhalt bedrohter Areale in Bern und in Basel gezeigt.

Die grünen Areale gehören den Städten, gepflegt und gehegt werden die Gärten aber von Privaten. Und den Städten fehlt es an nicht überbautem Boden, vor allem aber an Wohnraum. Deshalb interessieren sie sich für diese Grünflächen.

Es werden aber nicht nur neue Wohnungen gebaut. In Zürich etwa soll auf dem grössten Familiengarten-Areal ein neues Eisstadion entstehen. In der Stadt Zürich gibt es heute noch rund 5550 Kleingärten auf einer Fläche von etwa 132 Hektaren. Das entspricht der Fläche von 185 Fussball-Stadien.

Bodenreserven

 

«Die Familiengärten sind wegen des Wachstums der Stadt unter Druck», räumt die Vorsteherin des städtischen Tiefbauamts, die Grüne Ruth Genner ein. «Keine Frage, die Familiengärten haben die Funktion von Grünflächen, die wir bewahren möchten, sie stellen aber gleichzeitig auch Bodenreserven dar. Und bei übergeordnetem Interesse werden die Gärten weichen müssen.»

Das Problem beschäftigt alle Familiengarten-Vereine der Schweiz. «Das ist eine unserer grossen Sorgen», erklärt Priska Moser, Sekretärin des Schweizer Verbands der Familiengärten, der etwa 25’000 Mitglieder hat. «Überall bedrohen Immobilien-Projekte unsere Gärten.»

Ideal eines kleinen Besitzers

 

Dass die «Stadtgärtner» so an ihren Parzellen und Lauben hängen, hat damit zu tun, dass sie die Gärten als etwas betrachten, «das ihnen gehört, es ist ein Ort, an dem sie sich zu Hause fühlen, das Ideal für einen kleinen Besitzer, auch wenn das Land offiziell nur gemietet ist», sagen die Soziologen Christophe Delay und Arnaud Frauenfelder .

«Der Familiengarten ist ein wahres Labor für soziale Beobachtungen.» Meistens handelt es sich bei den Pächtern um Leute mit bescheidenem Einkommen.

Ein gemeinsamer Punkt sei, dass die Leute oder deren Eltern vom Land in die Stadt gekommen seien. «Ein eigener Garten ist seit Ende des 19. Jahrhunderts eine Art Gegenbewegung zur Landflucht. Heute trifft dies vermehrt auch auf Ausländerinnen und Ausländer zu, die in unsere Städte kommen.»

Die Leute, welche die Forscher für ihre Studie befragt hatten, unterstrichen, dass der Garten ihr «Sozialgewebe» sei. Sie verbringen die Wochenenden mit ihren Familien dort. Man hilft sich gegenseitig, erinnert sich an Handgriffe, die man von den Eltern lernte, tauscht Gemüse oder Blumen untereinander aus und ist stolz auf das, was man hier hat.

Integrationsinstrument

 

Familiengärten sind zudem das «beste Integrationsinstrument», fügt Priska Moser hinzu. Ein Ausländer, der in die Schweiz komme, werde kaum einem Jass-Club beitreten, der einschüchternd wirken könnte. «In einem Garten hingegen wird er vielleicht ein, zwei Wochen allein sein. Aber rasch einmal wird sich fast zwangsläufig ein Gesprächsthema mit anderen Hobbygärtnern ergeben, vor allem, wenn man sich ein bisschen um die Sprache bemüht.»

Christophe Delay und Arnaud Frauenfelder arbeiten zur Zeit an einem zweiten Teil ihrer Studie. Dieses Mal steht der Diskurs der Behörden über die Familiengärten im Zentrum. «Die Behörden tendieren teilweise dazu, die soziale Funktion der Familiengärten zu vernachlässigen.» Mit der steigenden wirtschaftlichen Ungleichheit und der Arbeitslosenrate sei diese Frage aber wieder aktueller gewonnen.

Auch bei Jungen gefragt

 

In Genf sind die meisten Mieter von Familiengärten älter als 50. In Zürich hingegen ist der Familiengarten auch bei Jungen beliebt. Viele junge Leute mieten eine Parzelle.

Das geht nicht immer ganz problemlos über die Bühne: Auf einigen Parzellen sind in jüngster Zeit Hütten entstanden, die in der Stadt als «Datschas» bezeichnet werden, überdimensionierte Lauben, in denen es am Wochenende oft zu lauten Treffen kommt.

Die Stadt will dieser Entwicklung Einhalt gebieten und hat daher eine neue Kleingartenordnung mit strikteren Regeln erlassen. Sie tritt Mitte Jahr in Kraft. Ungeachtet dessen wird die junge Bevölkerung aber dazu ermuntert, ihren eigenen Salat zu pflanzen.

In ihrer Studie über Familiengärten erklären die Genfer Soziologen Christophe Delay, Arnaud Frauenfelder und Laure Scalambrin, dass die Familiengärten, früher als ‹Arbeitergärten oder Volksgärten› bezeichnet, anfangs Einrichtungen zur sozialen Regulation der Bevölkerung waren.

Sie hatten ihre Wurzeln in den Umschichtungen, die einhergingen mit der industriellen Revolution gegen Ende des 19. Jahrhunderts.

Die Gärten und ihre Hütten waren das Resultat einer Idee, die darauf abzielte, entwurzelten Bevölkerungskreisen, meist Arbeitern, die ursprünglich vom Lande kamen und eingewandert waren, einen neuen Fixpunkt zu geben.

Zürich: 5500 Familiengärten (1 auf 69 Einwohner), auf einer Fläche von 132 Hektaren.

Freiburg: 293 Familiengärten (1 auf 120 Einwohner)

Lausanne: 549 kultivierbare Parzellen (mit Lauben) auf einer Fläche von ungefähr 11 Hektaren verteilt auf 10 Areale.

Kanton Genf: Mehr als 2000 Parzellen, aufgeteilt auf 26 Gruppierungen oder Grundstücke in 16 Gemeinden des Kantons.

In Genf, wo die zitierten Soziologen ihre Studie durchführten, hatten «80% der Garten-Mieter ein bescheidenes Einkommen» und fühlten sich im Volkstümlichen verwurzelt. Unter den Mietern fanden sich vor allem Angestellte (53%), Arbeiter (35%) sowie Selbständigerwerbende mit Kleinbetrieben (6%).

Herkunft: Im Genfer Familiengarten-Verband sind 55% der Mitglieder Schweizer und 45% Ausländer. Unter diesen stellen die Italiener mit 21% die Mehrheit, gefolgt von Portugiesen (15%) und Spaniern (6%).

Geschlecht: Es gibt unter den Familiengärtnern fast zweimal so viele Männer wie Frauen. Der Familiengarten, sagen die Genfer Forscher, sei also vor allem ein Ort, wo Männer zusammenkommen.

Alter: Die Mieter der Genfer Familiengärten waren mehrheitlich älter als 50.

Entwicklung: Eine andere Entwicklung zeigt sich in Zürich: Der Familiengarten ist dort in Mode und wird oft von Gruppen junger Leute gemietet.

(Übertragung aus dem Französischen: Rita Emch)

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