20 Jahre nach Tschernobyl: Atomkraft scheidet Geister
Die Katastrophe im AKW von Tschernobyl in der Ukraine vom 26. April 1986 hat auch in der Schweiz die Atomdiskussion bis heute nachhaltig beeinflusst.
Im Gespräch mit swissinfo nehmen Johann Schneider-Ammann, FDP-Nationalrat und Präsident der Maschinen-, Elektro und Metallindustrie (Swissmem) und Rudolf Rechsteiner, SP-Nationalrat, AKW-Gegner und Energiespezialist zu «Tschernobyl» Stellung.
swissinfo: 20 Jahre ist es her seit der Katastrophe von Tschernobyl. Was bedeutete dieser Unfall damals für sie?
J. Schneider-Amman: Verunsicherung, Betroffenheit. Kann so etwas auch bei uns passieren? Dann Einsicht: Bei uns kommt eine andere bessere Technologie zum Einsatz. Als Folge von Tschernobyl wurden weltweit die Sicherheitsanstrengungen bei allen Betreibern von Kernkraftwerken deutlich verstärkt.
Rudolf Rechsteiner: Der unmittelbare Druck für den Bau des AKW Kaiseraugst hörte auf. Und es traf ein, was der Bundesrat stets verneinte, dass ein radioaktiver Reaktor explodieren könne. Man durfte die Milch nicht mehr trinken und die Gemüsegärtner mussten ihre Produkte vernichten. Es war der Anfang von Ende der Atomenergie.
swissinfo: Wie hat sich der Unfall in Tschernobyl allgemein auf die Politik in der Schweiz ausgewirkt? Es herrschte ja noch der Kalte Krieg.
J.S-A.: Die Zustimmung der Bevölkerung für die friedliche Nutzung der Kernenergie fiel nach dem Reaktorunfall in Tschernobyl sehr tief. Gesellschaftspolitisch gewannen die Gegner der Kernkraft an Einfluss. Als der Unfall in Tschernobyl passierte, waren die Auflösungserscheinungen in der alten Sowjetunion bereits weit fortgeschritten und begünstigten organisatorische und technische Sicherheitsmängel.
R.R.: Das ganze Geschehen wurde unter dem Titel «russische Schlamperei» verharmlost. Die damaligen Elektro-Bosse, die zum Teil bis heute aktiv sind, haben sich geweigert irgend etwas daraus zu lernen. Erst eine neue Generation stellt die Weichen technologisch neu – Richtung Windenergie, Wärme-Kraft-Koppelung usw.
swissinfo: Und wie hat sich Tschernobyl konkret auf die Schweizer Energiepolitik ausgewirkt?
J.S-A.: Nach Tschernobyl kamen die Moratoriums- und Ausstiegsinitiative zustande. Die Moratoriumsinitiative wurde entgegen den Empfehlungen der Räte von Volk und Ständen am 23. September 1990 angenommen. Die Diskussion über den Bau neuer Anlagen in der Schweiz war seither Tabu.
R.R.: Auf Kaiseraugst wurde verzichtet. Trotzdem versuchte die Branche stets, mit Propaganda und Politikerkauf Einfluss zugunsten der Atomenergie zu nehmen. Doch die neuen Probleme sind die alten. Etwa fehlende Versicherung bei Atom-Unfällen oder die unlösbare Abfallproblematik. Das Erlöser-Image der Kernenergie («zu billig um Rechnungen zu schreiben») ist heute gebrochen.
swissinfo: In der Zwischenzeit sind 20 Jahre vergangen. Etliche Länder haben den Ausstieg aus der Kernenergie beschlossen, andere bauen oder planen AKWs. Was wird die Schweiz tun?
J.S-A.: Die Schweiz wird einen Weg finden müssen, wie sie die zukünftige Stromversorgung sicherstellen will. Wenn wir nichts tun, wird in 25–30 Jahren ein Drittel unseres Strombedarfs nicht durch inländische Produktion bzw. Langfristverträge gesichert sein. Ob in der Schweiz wieder Kernkraftwerke gebaut werden können, wird der Souverän entscheiden.
R.R.: Die alternativen Energieformen (Wind, Solar) haben ein Wachstum von 30 bis 40% pro Jahr. Dazu kommen Wärmekraftkopplung, Strom aus Geothermie, Biogas, Biomasse, etc.). Sie werden in der Schweiz mit geeigneten Rahmenbedingungen in den kommenden Jahrzehnten eine wichtige Rolle spielen. Die Umstrukturierung läuft im Ausland schon.
swissinfo: Studien sprechen von Stromknappheit in der Schweiz in den kommenden Jahren. Kommen Kaiseraugst und Graben nicht wieder aufs Tapet?
J.S-A.: Dass der Souverän die Option Kernkraft offen halten will, hat er am 18. Mai 2003 in der eidgenössischen Volksabstimmung deutlich gemacht. Die beiden Volksinitiativen «Moratorium plus» und «Strom ohne Atom» wurden mit in Atomfragen noch nie erreichter Deutlichkeit von Volk und Ständen verworfen. Es ist deshalb an der Zeit, dass wir über den Ersatz der Strommengen diskutieren, die wir von Mühleberg und Beznau sowie aus Kernkraftwerken in Frankreich beziehen.
R.R.: Die Strom- und Maschinenbranche in der Schweiz ist immer noch völlig fixiert auf Atomkraft und verpasst damit wichtige Märkte. Im Wettbewerb werden diese gefährlichen Kathedralen keine Mehrheit und wohl auch keine Investoren mehr finden. Und das Volk düfte einen Neubau mit einem klaren Nein verhindern. Die Solarzelle auf dem Dach oder Windenergie machen das Rennen, weil sie billiger und sauberer sind und viel mehr Akzeptanz geniessen werden.
swissinfo: Sind wir, die Gesellschaft, denn auch bereit, alternative Energieformen zu akzeptieren, die wohl auch eine Veränderung der Lebensgewohnheiten mit sich bringen?
J.S-A.: Sie, ich, wir alle schätzen es in der Regel nicht sehr, wenn man uns vorschreibt, was wir zu tun hätten, vor allem, wenn es mit Verzicht verbunden ist. Aus freien Stücken sind wir aber bereit, grosse Leistungen zu erbringen und Entbehrungen auf uns zu nehmen. Die Rahmenbedingungen müssen deshalb so gestaltet werden, dass wir unsere gemeinsamen energiepolitischen Ziele verfolgen, ohne dass unser individueller Freiraum ungebührlich eingeschränkt wird.
R.R.: Alternative Energien sind so gut, dass wir die Lebensgewohnheiten kaum ändern müssen. Es wird Häuser geben, die sich selber heizen. Und die Bereitschaft in der Bevölkerung für solche neuen Techniken ist riesengross. Irgendwann wird die Stromwirtschaft ihren Investitionsstreik in erneuerbare Energien beenden und neue Rahmenbedingungen nicht länger bekämpfen. Die erneuerbaren Energien haben die Atomenergie wirtschaftlich längst überholt.
swissinfo–Interview: Urs Maurer und Rita Emch
Die rechtlichen Grundlagen der Kernenergie-Politik der Schweiz gehen auf 1946 zurück.
Das Parlament hiess damals den ersten Beschluss der Regierung zur Förderung der Atomenergie gut.
1957 wurde die Kernenergie-Gesetzgebung in der Bundesverfassung verankert. Zwei Jahre später verabschiedete der Bundesrat das Atomgesetz.
1978 wurden mit einem Bundesbeschluss die Rahmenbewilligung und der Bedarfsnachweis zum Bau von Kernkraftwerken eingeführt. Die Erzeuger radioaktiver Abfälle haben die Verantwortung für deren sichere Beseitigung.
Atomgesetz und Bundesbeschluss wurden am 1. Februar 2005 durch das neue Kernenergie-Gesetz und die Kernenergie-Verordnung abgelöst.
Die Erteilung einer Rahmenbewilligung für neue Kernanlagen durch Bundesrat und Bundesversammlung ist nach dem neuen Gesetz dem fakultativen Referendum unterstellt.
Kernenergie wird in der Schweiz nur zivil genutzt: zur Stromerzeugung und für Anwendungen in Medizin, Industrie und Forschung.
Die Schweiz hat 5 Atomkraftwerke:
Beznau I und II (Inbetriebnahme 1969, 1972)
Mühleberg (1972)
Gösgen (1978)
Leibstadt (1984)
Der Anteil der Kernenergie an der Inland-Stromproduktion beträgt im Jahresdurchschnitt 38% (Winter bis zu 45%)
Europäischer Jahres-Durchschnitt: 33%.
Die fünf AKWs haben eine Gesamtleistung von 3,2 Gigawatt.
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