Abwanderung aus den Alpen stoppen
Viel Geld wurde investiert, um die Abwanderung in den Alpen zu stoppen. Nach wie vor kehren zahlreiche Menschen ihrer heimatlichen Bergregion den Rücken.
Der Entwurf für ein neues Bundesgesetz über die Regionalpolitik liegt vor. Genügt er, um die Trendwende herbeiführen?
Die Schweiz wird zu einer Stadt: 73% der Bevölkerung leben in Agglomerationen und Städten. Die übrigen Gebiete entvölkern sich zusehends. In nur zehn Jahren hat die Zahl der Bergbauern um 10’000 abgenommen, und auch die Anzahl der Gaststätten in den Grenzregionen ging von 6’500 auf 5’700 zurück.
Um dieses Phänomen aufzuhalten, wurde in den Sechzigerjahren die so genannte Regionalpolitik entwickelt, eine Mischung zwischen zentralistischer Planung und lokaler Wunschliste. Eine Schlüsselrolle spielte dabei der Finanzausgleich, mit dem die finanziellen Mittel entsprechend den Einkünften und Bedürfnissen umverteilt werden sollten.
Ein lückenhaftes System
Doch dieser Mechanismus funktioniert nicht. Eine Revision tut Not.
Rudolf Schiess, der das Dossier beim Staatssekretariat für Wirtschaft (seco) betreut, führt drei Gründe ins Feld: «Trotz der Bemühungen der letzten Jahre nimmt die Abwanderung weiter zu; in den Randregionen stehen kaum Stellen für qualifizierte Arbeitskräfte zur Verfügung, was einen ‹brain drain› zur Folge hat; zudem stellen wir seit einiger Zeit fest, dass die heutigen Instrumente, die vor allem der regionalen Infrastruktur zugute kommen, für eine Tendenzumkehr nicht ausreichen.»
Kurz und gut: Nicht alle Berggemeinden brauchen ein Hallenbad, ein neues Ausbildungszentrum und öffentliche Infrastrukturen im Grossformat. Viel wichtiger sind Arbeitsplätze und Zukunftsperspektiven. Eine neue Strategie soll nun den erhofften Erfolg bringen.
Ein Musterbeispiel: die elektronische Alphabetisierung
Werfen wir einen Blick auf ein Projekt, das laut seco Modellcharakter hat. Schauplatz ist das Puschlav, ein kleines, italienischsprachiges Tal mit knapp 5000 Einwohnern. Hier gründete das Schweizerische Institut für Berufspädagogik im Jahr 1996 ein Kompetenzzentrum für e-learning, das «Projekt Puschlav». 2000 wurde dieses Zentrum unabhängig; heute zeichnet es sich durch eine starke, eigenständige Identität aus und erfasst auch benachbarte Randregionen.
Danilo Nussio war von Anfang an mit von der Partie. Er fasst dieses Experiment, das auf den modernsten Informations-Technologien basiert, mit folgenden Worten zusammen: «Das Projekt hat uns die Augen geöffnet und uns unser Potenzial bewusst gemacht».
Kontakte zu Tessin und Italien
Bis heute haben 300 Personen die Kurse des Zentrums besucht. Dabei haben sie nicht nur gelernt, den Computer zu bedienen, sondern auch die Möglichkeiten der Telematik zu nutzen: vom einfachen Verkauf lokaler Produkte via Internet bis zur Entwicklung anspruchsvoller Kommunikationskurse, die landesweit mehrfach ausgezeichnet wurden.
Heute ist der «Polo Poschiavo» Ausgangspunkt zahlreicher Initiativen. Für die italienischsprachige Enklave im Kanton Graubünden hat sich die geographische Lage geändert. Kontakte mit dem Kanton Tessin und mit der italienischen Provinz Sondrio sind mittlerweile an der Tagesordnung. Und Nussio ergänzt: «Früher betrieb man ein bisschen Handel und ein bisschen Schmuggel – doch kontinuierliche, grenzüberschreitende Beziehungen im umfassenden Sinn fehlten».
Zukunftsorientiert
Heute hat der «Polo Poschiavo» vier hochqualifizierte Mitarbeiter. Im Vordergrund steht für Danilo Nussio das Vertrauen in die Zukunft: «Es gibt immer mehr interregionale Projekte mit den italienischen Nachbarregionen, und es wurden zahlreiche Aktivitäten gestartet. Statt einfach auf Manna von oben zu warten, ist die Region heute sehr aktiv.»
Auch Bern will Innovationen dieser Art vermehrt unterstützen. «In Zukunft sollen vor allem Projekte finanziert werden, die Arbeitsplätze schaffen und Probleme lösen. Eine gute Infrastruktur reicht nicht aus, um die Zukunft einer Randregion zu sichern», erklärt Rudolf Schiess. Das ist auch das Ziel des neuen Bundesgesetzes, dessen Vernehmlassung Ende September abgeschlossen wurde.
Unterschiedliche Meinungen
Dass Effizienzsteigerung gefragt ist, leuchtet allen ein; doch bei näherem Hinsehen – vor allem in Richtung Zahlen – melden sich Zweifel. So verlangt zum Beispiel die Tessiner Regierung klare Garantien. Oder anders ausgedrückt: ein Paradigmenwechsel ist gut und recht – aber Geld braucht es nach wie vor.
Ein Schreckgespenst am Horizont sind mögliche Sparmassnahmen. Doch Schiess winkt ab: «Wir wollen nicht sparen, sondern die Massnahmen effizienter gestalten.» Der Dialog ist eröffnet. Schon damit dürfte Einiges gewonnen sein.
swissinfo, Daniele Papacella
(Übertragung aus dem Italienischen: Maja Im Hof)
979 der rund 3000 Schweizer Gemeinden sind bereits Teil einer städtischen Agglomeration.
1950 traf dies nur auf 155 Gemeinden zu.
Zwischen 1950 und 2000 hat sich die Wohnbevölkerung im städtischen Raum mehr als verdoppelt; sie umfasst heute 73% der Bevölkerung.
Die eidgenössische Regionalpolitik hat das Ziel, das wirtschaftliche Gefälle zwischen den Regionen zu mildern, vor allem zwischen der Stadt, die als wirtschaftliche Triebfeder fungiert, und dem Land, das von Abwanderung bedroht ist.
Bis anhin bezogen sämtliche Berggebiete Subventionen für den Ausbau von Infrastrukturen, welche die Rahmenbedingungen verbessern sollten. Doch die Abwanderung konnte damit nicht gebremst werden.
Das neue System setzt vermehrt auf die Effizienz bestimmter Projekte in den Berg- und Randregionen.
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