Macht des Volkes ist gut für die Durchsetzung von Menschenrechten
Parlamente und Regierungen sollten mehr auf die Bürgerinnen und Bürger hören statt auf Lobbyisten der Militärindustrie oder transnationaler Unternehmen. Letztlich bietet die Macht des Volkes die beste Aussicht für die Gewährleistung der Menschenrechte für alle. Das sagt Alfred de ZayasExterner Link, UNO-Experte für Demokratie und Menschenrechte.
Der Amerikaner, der in Genf lehrt, ist seit 2012 «UNO-Sonderberichterstatter für die Förderung einer demokratischen und gerechten internationalen Ordnung». Zuvor war de Zayas ein führender Jurist beim Hohen Kommissar der Vereinten Nationen für Menschenrechte (UNHCHR). Er berichtet dem Menschenrechtsrat und der Generalversammlung der UNO über Themen wie Selbstbestimmung, Rechtsstaatlichkeit, Steuergerechtigkeit und Handel.
swissinfo.ch: Ihr letzter BerichtExterner Link zuhanden des UNO-Menschenrechtsrats lässt die Alarmglocken klingeln, was die geheimen Verhandlungen ohne parlamentarische Kontrolle von riesigen Handelsabkommen wie beispielsweise dem Transatlantischen Freihandelsabkommen (TTIP) anbelangt. Wie können solche Abkommen und Gesetze demokratischer ausgehandelt werden?
Alfred de Zayas: Meiner Meinung nach muss man noch einmal von vorn anfangen. Angesichts der Millionen von Menschen, die auf der Strasse demonstrieren, müssen Politiker zuhören, wenn sie als demokratisch gelten wollen. In einer Umfrage der Europäischen Kommission aus dem Jahr 2014 sagten 97% der 150’000 Befragten Nein zu den asymmetrischen Streitbeilegungsverfahren zwischen Investoren und Staaten. 3,3 Millionen EU-Bürger schrieben Briefe gegen das TTIP, und die einzige Antwort der Europäischen Kommission war der Versuch einer Image-Änderung mittels Einführung der Investitionsgerichtsbarkeit, was ein Etikettenschwindel ist.
Politiker und Parlamentarier hören weder auf das Volk noch auf unabhängige Experten – sehr wohl aber auf Unternehmenslobbyisten. Der US-Präsident Barack Obama versucht, die Transpazifische Partnerschaft (TPP) und das TTIP durchzubringen, ohne auf die Argumente von Nobelpreisträgern wie Joseph Stiglitz und Paul Krugman oder Wirtschaftsexperten wie Jeffrey Sachs zu hören.
Doch die Gegnerschaft gewinnt an Stosskraft und ich denke, dass das TTIP vereitelt werden kann. Allerdings kann man viele Schlachten gewinnen und trotzdem den Krieg verlieren. Die Zivilgesellschaft muss Referenden in allen betroffenen Ländern verlangen und bis zum Ende wachsam bleiben.
Alfred de Zayas (*31. Mai 1947) ist ein amerikanischer Anwalt, Autor, Historiker und führender Experte für Völkerrecht und Menschenrechte. Der UNO-Menschenrechtsrat ernannte ihn 2012 zum Sonderberichterstatter für die Förderung einer demokratischen und gerechten internationalen Ordnung. De Zayas arbeitet zurzeit als Professor für Völkerrecht an der Genfer Diplomatenschule.
swissinfo.ch: Wachsender Populismus, niedrige Stimmbeteiligung, einflussreiche Lobbyisten, eine Kultur der faktenarmen Kurzstatements – es sind schwierige Zeiten für die Demokratie.
A.d.Z.: Warum ist es so weit gekommen? Weil die etablierten Parteien den Volkswillen ignoriert haben und in vielen Situationen untätig geblieben sind, was ein Vakuum geschaffen hat.
Wenn man Themen wie Einwanderung, Arbeitslosigkeit, Wohnungsbau und Bildung nicht angeht und denkt, dass die Probleme von allein verschwinden, schafft man eine Vakuum, in das Populisten bequem eindringen und es für ihre Zwecke verwenden können – die nicht immer mit den Menschenrechten harmonieren.
Lobbys, die auf kurzzeitigen Profit ausgerichtet sind und die öffentlichen Interessen ignorieren, üben in Europa, den USA und anderen westlichen Staaten viel Macht aus. Die Leute wenden sich aus dem Gefühl des Nichtgehört Werdens extremistischen Parteien zu, da die etablierten Parteien ihren Job nicht machen. In den meisten europäischen Ländern wird zu wenig auf das Volk gehört. Die Bürgerinnen und Bürger werden auch nicht proaktiv informiert oder vor politischen Entscheiden konsultiert.
swissinfo.ch: Am internationalen Tag der Demokratie am 15. September haben Sie mehr direkte Demokratie weltweit gefordert. Warum?
A.d.Z.: Ich habe mehr direkte Demokratie gefordert, aber nicht für banale Themen. Man sollte die Stimmbürgerinnen und Stimmbürger nicht mit Fragen erschöpfen, die nach vernünftigem Menschenverstand ein Parlament beantworten kann.
Mir gefällt eher die Idee einer gemischten direkten Demokratie oder einer halbdirekten Demokratie, in der die wirklich wichtigen Themen der Bevölkerung zur Diskussion und Genehmigung vorgelegt werden. Also Themen wie das TTIP und CETA, Entscheide über gerechte Besteuerung oder den Verkauf von Waffen an Länder, die schwere Menschenrechtsverletzungen begehen.
Ich bin dafür, die Bevölkerung zu konsultieren, aber ich würde die Maschinerie eines Referendums nicht für alles verwenden. Die Kehrseite von zu vielen Referenden ist eine schwache Stimmbeteiligung. Wenn nur 30% der Stimmberechtigten über ein Thema abstimmen, wird dann wirklich der Volkswille abgebildet?
swissinfo.ch: Die Schweizer direkte Demokratie wird häufig als Vorbild angesehen. Was sind ihre Stärken?
A.d.Z.: Die Bevölkerung hat das Gefühl, am Schalthebel zu sitzen. Wenn die Bürgerinnen und Bürger etwas wollen, können sie Unterschriften für eine Initiative sammeln. Und wenn sie einen Regierungsentscheid nicht gut finden, können sie 50’000 Unterschriften sammeln und den Entscheid mit einem Referendum rückgängig machen. Dieses Gefühl der Partizipation und des Ernstgenommen Werdens ist viel wert und trägt zum sozialen Frieden bei. Die Bevölkerung fühlt sich nicht ausgeschlossen.
swissinfo.ch: Aber die Schweizer Demokratie ist nicht perfekt. Die Schweiz wird beispielsweise dafür kritisiert, dass es keine Gesetze über die Offenlegung der Finanzierung von Parteien und Wahlen gibt.
A.d.Z.: Das ist sehr wichtig. In den USA hat der Supreme Court vor sechs Jahren einen schrecklichen Entscheid gefällt [Citizens United v. Federal Election Commission], wonach Spenden an politische Parteien oder Kandidaten in unbegrenzter Höhe erlaubt sind. Das Fazit lautet also, dass man Wahlen kaufen kann.
Es braucht eine volle Offenlegung, wer welchen Parteien und Kandidaten Geld gibt. Und es braucht Obergrenzen, damit es gleiche Ausgangsbedingungen gibt.
Die Mega-Freihandelsabkommen
Mehrere grosse Freihandelsabkommen werden verhandelt oder stehen kurz vor ihrer Ratifizierung. So das TPP (Trans Pacific Partnership), das TTIP (Trans-Atlantic Trade and Investment Partnership) und das TISA (Trade in Services Agreement).
Im Oktober beginnt eine neue Verhandlungsrunde für das TTIP, und US-Präsident Barack Obama will den Deal unter Dach und Fach haben, bevor er das Weisse Haus im Januar verlässt. Aber es gibt wachsenden Widerstand. Kritiker sagen, das TTIP würde den europäischen Standard des Umwelt- und Konsumentenschutzes senken sowie zu Outsourcing und Stellenabbau führen. In Deutschland haben Zehntausende gegen das TTIP protestiert.
Ein ähnlicher Deal zwischen der EU und Kanada, das CETA (Comprehensive Economic Trade Agreement), soll im Oktober unterzeichnet werden. Das im Februar 2016 unterzeichnete, aber noch nicht ratifizierte TPP will die wirtschaftlichen Bande zwischen den Pazifikstaaten (USA, Japan, Malaysia, Vietnam, Singapur, Brunei, Australien, Neuseeland, Kanada, Mexiko, Chile und Peru) festigen.
TISA ist ein Vorschlag für ein Abkommen zwischen 23 Staaten (darunter die EU und die USA), der im Geheimen verhandelt wird. Es bezweckt die Liberalisierung des Dienstleistungssektors wie Banken, Gesundheitswesen und Transport.
(Übertragung aus dem Englischen: Sibilla Bondolfi)
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