Als die Schweiz die «jüdischen Fonds» untersuchte
Im Dezember 1996 rief die Schweiz eine unabhängige Expertenkommission (UEK) ins Leben, die das Verhalten der Schweiz im Zweiten Weltkrieg untersuchen sollte.
Am Freitag hat die UEK Bilanz gezogen über die durch die Publikation des Bergier-Berichts ausgelösten Debatten und Untersuchungen.
1995, also 50 Jahre nach dem Ende des Zweiten Weltkrieges, haben jüdische Organisationen angefangen, den Schweizer Banken Fragen zu stellen über den Verbleib der nachrichtenlosen Vermögen der Nazi-Opfer.
«Da sich die Banken in der Bewältigung der Krise als schwer zugänglich erwiesen, wurde die Kritik an ihrer Haltung immer lauter und gelangte schliesslich 1996 bis zum Bundesrat und der Nationalbank (SNB)», sagt Hans-Ulrich Jost.
Einst als «Linker» geschmäht, wurde der Honorarprofessor der Universität Lausanne und renommierte Historiker auserkoren, als Moderator für den zehnten Geburtstag der UEK in Bern zu wirken.
Eine «entsetzliche Stimmung»
Die Emotionen gingen hoch und sogar der damalige Bundesrat Jean-Pascal Delamuraz sprach öffentlich von «Erpressung und Bedrohung der Schweiz».
Doch für Hans-Ulrich Jost begann alles bereits in den sechziger Jahren, lange bevor die internationale Kritik laut wurde und die Kollektivklagen und Boykottdrohungen gegen Schweizer Banken in den USA ausgesprochen wurden.
«In dieser entsetzlichen Stimmung der Heuchelei wurde sogar behauptet, dass sich die Schweiz während des Kriegs untadelig verhalten hatte, dass die Fragen nur Details betreffen und gut bearbeitet würden», sagt Jost gegenüber swissinfo.
Er selbst gesteht, «ein wenig gelacht» zu haben, als er Aussenminister Flavio Cotti an die «ganze Wahrheit» appellieren hörte. «Wer die Geschichtsbücher dieser Zeit gelesen hatte, hätte die Wahrheit wissen müssen», ergänzt er.
Image aufpolieren
Damals, am 13. Dezember 1996 bewilligte das Parlament die Schaffung einer unabhängigen Expertenkommission über die Rolle der Schweiz im Zweiten Weltkrieg.
Am 19. Dezember wurde die UEK vom Bundesrat damit beauftragt, «die Rolle des Finanzplatzes Schweiz während und nach dem Nazi-Regime gründlich zu durchleuchten.» Oder anders gesagt: das befleckte Image des Landes wieder aufzupolieren.
In seltener Geschwindigkeit wurde diese Aufgabe in Angriff genommen. Das Parlament diskutierte das Problem damals nicht gründlich. Ebensowenig fünf Jahre später, als der Bergier-Bericht abgeliefert wurde.
Jost erinnert daran, dass eine Schlussdebatte im Parlament vorgesehen war. «Aber schliesslich wurde jede Möglichkeit einer Schweizer ‹Schuld› ausgeschlossen.»
«Das Resultat darf sich sehen lassen»
Das Bankgeheimnis wurde für die Untersuchung der nachrichtenlosen Vermögen während fünf Jahren aufgehoben.
So konnten die Experten die Gold- und Geldtransaktionen der Nationalbank und anderer Banken, die Geschäftsbeziehungen mit Deutschland und die Haltung der Regierung gegenüber Flüchtlingen prüfen.
Der Druck war enorm. «Es wurde nicht überlegt wie bei einer historischen Forschung, und so ging man sehr bürokratisch vor», sagt Jost.
Aber das UEK konnte sich «rasch organisieren und ging auf Distanz zum Bundesrat».
Es blieb der öffentliche Druck, die Schweiz möglichst schnell reinzuwaschen, was das UEK zwang, schnell und mit jungen, relativ unerfahrenen Historikern zu arbeiten.
«Dringlichkeit schafft keine idealen Bedingungen, aber das Resultat darf sich sehen lassen», kommentiert Jost den 25-bändigen Schlussbericht der UEK.
Gleichgültigkeit
Seit dessen Erscheinen sind weitere Bücher und Artikel publiziert worden. Doch Jost ist enttäuscht über die Gleichgültigkeit, die dem Bericht von den Universitäten und den Medien entgegengebracht wird.
Der Historiker gibt seinem Ärger Ausdruck, wenn er Angriffe von Seiten der Schweizerischen Volkspartei (SVP) erwähnt. «Sie sprachen davon, den Bergier-Bericht zu verbrennen, und niemand protestierte dagegen.»
Die Schweiz wolle offenbar nicht wissen, ja selbst Experten wollen nicht zu tief graben, meint Jost. Doch er tröstet sich mit der Hoffnung, dass «in 50 Jahren junge Forscher den Bericht lesen und die öffentliche Debatte damit anheizen werden».
swissinfo, Isabelle Eichenberger
(Übertragung aus dem Französischen: Susanne Schanda)
13. Dezember 1996: Das Parlament verabschiedet einen Artikel bezüglich historische und juristische Nachforschungen über das Schicksal der Vermögen, die in der Folge des Nazi-Regimes in die Schweiz gekommen sind. Das Bankgeheimnis für diese Vermögen wird während fünf Jahren aufgehoben.
19. Dezember: Der Bundesrat ernennt eine unabhängige Expertenkommission (UEK), die ihre Arbeit im Mai 1997 aufnimmt.
Mai 1998: Präsentation des Zwischenberichts «Die Schweiz und ihre Gold-Transaktionen während des Zweiten Weltkriegs».
19. Dezember 2001: Der Schlussbericht wird eingereicht.
März 2002: Die UEK übergibt der Regierung ihren Schlussbericht, 600 zusätzliche Seiten zu den 11’000 der 25 publizierten Bände.
Nach fünf Jahren wird die Kommission aufgelöst. Die Untersuchung hat 22 Mio. Franken gekostet.
Die unabhängige Expertenkommission Schweiz-Zweiter Weltkrieg wurde vom Historiker Jean-François Bergier geleitet.
Schweizer Mitglieder: Helen B. Stutz, Ökonomin; Georg Kreis, Historiker; Jacques Picard, Historiker; Jakob Tanner, Historiker; Daniel Thürer, Jurist; Myrtha Welti, Generalsekretärin.
Ausländische Historiker: Wladyslaw Bartoszewski (Polen), Saul Friedländer (Israel/USA), Harold James (Grossbritannien).
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