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«Das Gute führt nicht unbedingt zum Guten»

"Mich interessieren menschliche Abgründe": Lukas Bärfuss, Schweizer Autor. swissinfo.ch

Der junge Schweizer Autor Lukas Bärfuss hat mit "Hundert Tage" einen fesselnden Roman geschrieben, der direkt ins Herz der Finsternis führt. Zur Debatte steht die Schweizer Entwicklungshilfe in Afrika.

«Missland war zum dritten Mal mit einer Frau aus Kigali verheiratet. Die Ehe verstand er als Entwicklungshilfe und er fand es ungerecht, nur einer Frau diese Möglichkeit vorzubehalten.» Der Mann gilt als schwarzes Schaf unter den Schweizer Entwicklungshelfern in Ruanda. Man meidet ihn wegen seiner Liederlichkeit.

Im Roman von Lukas Bärfuss ist Missland eine Gegenfigur zu den «Guten», die ihren Einsatz in der Direktion für Entwicklung und Zusammenarbeit (Deza) aus einem Schuld- und Verantwortungsgefühl «für das Elend, das die Weissen über diesen Kontinent gebracht hatten», tun.

Einer von ihnen ist David Hohl, der bereits auf der Reise nach Ruanda zum ersten Mal über seine guten Absichten stolpert, als er bei der Zwischenlandung in Brüssel eine schöne Afrikanerin vor lästigen Grenzbeamten schützen will und von ihr nur Verachtung erntet. Hohl fühlt sich gedemütigt. Es wird nicht das letzte Mal sein.

«Hundert Tage» ist nicht zuletzt ein Entwicklungsroman um den 24-jährigen Experten der «Direktion», wie die damalige Direktion für Entwicklungshilfe im Buch genannt wird.

Im Büro in Kigali verwaltet David Hohl mit seinen Kollegen Bewässerungs-, Strassenbau- und Aufforstungsprojekte, nimmt an Sitzungen teil und hört Schweizer Radio International, während die Deckenventilatoren die heisse Luft in Bewegung setzen.

Moralisches Dilemma

«Mich interessiert weniger die Entwicklungshilfe selbst als vielmehr das moralische Dilemma eines Menschen, der ein totalitäres Regime in Kauf nimmt, weil es ihm gut funktionierende Strukturen und Sicherheit garantiert, die er für seine Arbeit braucht», sagt der Autor gegenüber swissinfo.

David Hohl werde aufgerieben zwischen seinen hohen moralischen Ansprüchen und der riesigen sozialen Ungerechtigkeit vor seinen Augen, die er nicht sehen kann oder will. «Wie verkraftet ein Mensch diesen Spalt in seinem Bewusstsein? – um diese Frage geht es mir», sagt Bärfuss.

Für seinen Roman hat der Autor gründlich recherchiert, vor Ort in Ruanda und in den Archiven der Deza. «Keiner der Entwicklungshelfer konnte mir sagen, wie er diese Widersprüche im Alltag zusammenbrachte.»

Der Völkermord wurde sorgfältig geplant

Der Roman zeigt die internationale Entwicklungshilfe als höchst problematisch und die Helfer als naiv, die weder die politischen Machtverhältnisse im Land noch dessen Sprache kannten. «In Ruanda drängten sich um 1990 rund 200 Hilfsorganisationen, weil man dort so gut arbeiten konnte», sagt Bärfuss.

Zugleich hätten gerade diese gut funktionierenden Strukturen den Genozid überhaupt erst möglich gemacht: «Das war kein irrationaler Ausbruch von Gewalt, sondern von langer Hand geplant und mit fast schweizerischer Perfektion ausgeführt.»

Am Ende der hundert Tage, die der Entwicklungshelfer Hohl alleine mit den Mördern verbringt, als längst alle Internationalen ausser ihm abgereist sind, erkennt er, «dass in der perfekten Hölle die perfekte Ordnung herrscht».

Entwicklungshilfe ist «Pflästerlipolitik»

Die böse Ironie der Geschichte ist, dass David Hohl und seine Kollegen von der Direktion trotz ihrer guten Absichten am Ende nur ihr eigenes Leben retten. Der egoistische und amoralische Missland dagegen fliegt die 30-köpfige Familie seiner Geliebten aus, weil sie nur unter dieser Bedingung mit ihm ausreist.

«Er tut das moralisch Richtige aus unmoralischen Gründen», sagt Bärfuss und ergänzt: «Mich interessieren diese Ambivalenzen, dass das Gute nicht unbedingt zum Guten führt und das Böse nicht zum Bösen.»

Bei aller Kritik an der Entwicklungshilfe plädiert der Autor nicht etwa für deren Abschaffung. «Was in Afrika betrieben wird, ist eine ‹Pflästerlipolitik›. Das ist besser als nichts, löst aber die Probleme nicht, die wir auf anderen Ebenen anrichten. Unsere Handelsbarrieren machen die afrikanische Landwirtschaft kaputt.»

Das Verdienst dieses Romans ist allerdings gerade, dass er nicht urteilt, sondern eine atemberaubende Geschichte erzählt, die tief in die Abgründe der menschlichen Seele leuchtet. Den Protagonisten David Hohl mag man beim Lesen anfangs noch belächeln. Doch in seiner Naivität, Eitelkeit und Verletzlichkeit kommt er einem auf unangenehme Weise nahe. Er wirkt echt, wenn auch nie sympathisch.

Der Roman zeichnet Individuen mit Herz und Kopf, die letztlich etwas aus ihrem Leben machen wollen. Dass dies vor dem Hintergrund der Problematik von Entwicklungshilfe geschieht, macht die Geschichte erst recht brisant.

swissinfo, Susanne Schanda

Lukas Bärfuss wird 1971 in Thun im Kanton Bern geboren.
1997 gründet er mit dem Regisseur Samuel Schwarz die Theatergruppe 400asa.
Bärfuss› Stücke werden mit Erfolg in der Schweiz, Deutschland und Österreich gespielt: «Meienbergs Tod», «Die sexuellen Neurosen unserer Eltern», «Der Bus».
An der Expo02 erregt 400asa mit dem «Affentheater» zum Nationalfeiertag Aufmerksamkeit.
2005 erhält Bärfuss den renommierten Mühlheimer Dramatikerpreis und wird von der Fachzeitschrift «Theater heute» zum Dramatiker des Jahres gewählt.
«Hundert Tage», 2008 im Wallstein-Verlag erschienen, ist der erste Roman von Lukas Bärfuss.

Ruanda wurde 1962 unabhängig. Die Konflikte zwischen den Volksgruppen der Hutu und den Tutsi gipfelten 1994 im Völkermord an den Tutsi, bei dem 800’000 Menschen umgebracht wurden.

Bis zu diesem Zeitpunkt war Ruanda ein Schwerpunktland der Schweizer Entwicklungshilfe.

Mit dem Roman «Hundert Tage» bezieht sich Lukas Bärfuss auf das Frühjahr 1994, als das Morden seinen Höhepunkt erreichte und die internationalen Entwicklungshelfer das Land verliessen.

«Wir räumen durchaus ein: Es wurden damals Fehler gemacht. Aber aus den Fehlern hat die Deza gelernt. So wurde etwa das «Monitoring entwicklungsrelevanter Veränderungen» (MERV) eingeführt. Auch haben wir seither unsere Arbeit regionalisiert und Burundi und den angrenzenden Kongo miteinbezogen.»

«In der relativ kurzen Zeit, die ein Deza-Experte jeweils im Land verbringt, wäre eine Erlernung der Sprache kaum möglich. Stattdessen haben wir die Ausrichtung unserer Arbeit verbessert. Heute sind Themen wie gute Regierungsführung und Menschenrechte von zentraler Bedeutung in der Entwicklungszusammenarbeit weltweit – auch in Ruanda.»

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