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Der Herr der Zeiten

Werner Wildener hat die Zeit im Griff. Keystone Archive

Sie nennen ihn "Mr. Fahrplan". Werner Wildener ist verantwortlich für den grössten Fahrplanwechsel in der Geschichte der Schweizerischen Bundesbahnen (SBB).

Wenn am Sonntag die Bahn 2000 erstmals die neue Strecke befährt, wird Realität, was Wildener bereits vor Jahrzehnten ausgeheckt hatte.

Vor genau 20 Jahren, um Weihnachten 1984, setzte sich Werner Wildener mit einem kleinen Team an einen Tisch. Mit Bleistift und Radiergummi machten sie sich daran, der Schweiz für das Jahr 2000 einen neuen Fahrplan zu bescheren.

Dass es allerdings vier Jahre länger dauern würde, bis am 12.12.2004 die Bahn 2000 nach ihrem Fahrplan startet, konnten sie damals noch nicht ahnen.

Am Sonntag wird mit dem neuen Bahn-2000-Fahrplan fast alles anders als gewohnt. 90 Prozent der Abfahrts- und Ankunftszeiten wurden geändert. «Der beste Fahrplan, den wir je hatten», ist Paul Blumenthal, Leiter der Abteilung Personenverkehr der SBB, überzeugt.

Gefragter Mann

Die «neuen Zeiten» haben Fahrplanchef Werner Wildener innert kurzer Zeit zu einem der wohl gefragtesten Männern der Schweiz gemacht. Alle Medien wollten ihn haben.

Die Anfragen wurden daher vor dem Start der Bahn 2000 abgeblockt. Nach Dutzenden von Interviews mussten die SBB ihren «Mr. Fahrplan» vor Überlastung schützen.

Immer dichter wird auch der Takt der Züge auf den Schweizer Strecken. Ein Netz, das bereits vor dem Fahrplanwechsel das am intensivsten genutzte der Welt ist. Gegen 9000 Züge befahren es jeden Tag. Ab Sonntag werden es noch einmal tausend mehr sein.

Grafische Arbeit

Bei so vielen Abfahrts- und Ankunftszeiten könnte man meinen, Wildener sei ein Meister der Zahlen.

Doch das Gegenteil sei der Fall, erklärt er in einem Interview. «Ich kann mich weniger gut an Zahlen erinnern, dafür habe ich ein gutes grafisches Gedächtnis.»

In seinem Büro hängen denn auch Grafiken, die an moderne Kunst erinnern. Die Entwürfe für einen Fahrplan entstehen auch heute noch oft auf einem Blatt Papier. Doch zuerst reife die Idee im Kopf.

«Das ist wie Schach spielen ohne Brett», sagt Wildener in einer Publikation, es brauche «ein wahnsinnig gutes räumliches Vorstellungsvermögen», in einer anderen. Dazu komme viel Bauchgefühl, das er sich während 19 Jahren als Fahrdienstleiter auf zahlreichen Bahnhöfen der Schweiz angeeignet habe.

Jeden Kilometer abgefahren

Wildener ist daher beileibe kein Büromensch. Jeden Bahnkilometer der Schweiz habe er abgefahren, jeden Bahnhof besucht und dort mit Lokführern und Fahrdienstleitern gesprochen. Das Hin und Her der Züge ist ihm dabei ins Blut übergegangen.

Schliesslich ging es nicht nur darum, die Personenzüge neu zu planen, sondern auch den internationalen Fernverkehr, den Nah- und den Güterverkehr einzubinden. «Man muss den Zugverkehr vor dem geistigen Auge sehen», ist Wildener überzeugt.

Geholfen hat auch eine weltweit einmalige Situation: «Das Geniale der Bahn 2000 ist der Umstand, dass wir zuerst einen Fahrplan erstellen konnten und erst dann auf der Basis desselben die Infrastruktur gebaut wurde», präzisiert er.

Grosse Macht über Pendler

Mit seiner Arbeit hat Wildener eine grosse Machtfülle in die Hände bekommen. Er konnte bestimmen, wann die Wecker der Schweiz in Zukunft läuten werden.

Zwar konnte Wildener das Ganze mit seinem Team am Computer simulieren. «Doch die Wirklichkeit ist anders», so Wildener. Die Passagiere müssten sich zuerst umgewöhnen.

«Pendler, die heute genau wissen, wo sie einen freien Platz finden, müssen total umstellen.» Dies könnte zu Beginn des neuen Fahrplans möglicherweise zu Verspätungen führen.

Doch mit so genannten Kundenlenkern wollen die SBB nach der Umstellung versuchen, die Reisenden rechtzeitig zu informieren. Ausserdem wird eine Task-Force auf Pikett sein, wenn am Sonntag der Fahrplan 2000 in Kraft tritt.

Exportschlager Fahrplan?

Die Arbeit des «Dirigenten der Doppelstöcker» ist auch im Ausland nicht unbemerkt geblieben. Bereits konnte er mit seinem Team Beratungen für den Euro-Tunnel zwischen Calais und Dover durchführen.

«Unsere Vorreiterrolle wird europaweit anerkannt, unsere Erfahrungen geschätzt. Denn andere Länder werden bald in ähnliche Situationen kommen.» Wildener kann sich daher durchaus vorstellen, seine Kenntnisse im Ausland einzusetzen, wenn sein Lebenswerk den Praxistest bestanden habe.

swissinfo, Christian Raaflaub

2003 transportierten die SBB 250 Mio. Reisende
Sie beschäftigten 28’700 Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter
Der Gewinn belief sich auf 25 Mio. Fr.
Das Schienennetz beträgt rund 7300 km

Der 56-jährige Werner Wildener ist «Leiter Fahrplan» bei den Schweizerischen Bundesbahnen (SBB). Seit 1984 erarbeitete er den Fahrplan für die Bahn 2000.

Seit 1997 ist der Berner mit einem Team von 60 Leuten auch verantwortlich für die jährlichen Fahrplanwechsel der SBB.

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