Der Traum vom Wiederaufbau der Seidenindustrie
Im 18. und 19. Jahrhundert war die Schweizer Seidenindustrie in der ganzen Welt bekannt. Heute kann nur noch von drei Spinnereien gesprochen werden. In letzter Zeit entstand jedoch eine Bewegung, welche die Seidenindustrie erneut aufleben lassen möchte.
Die Vereinigung Schweizer Seidenproduzenten Swiss Silk hat im Jahr 2009, dem UNO-Jahr der Naturfaser, den gesamten Ablauf von der Raupenzucht bis zur Herstellung von Seideprodukten in der Schweiz durchgeführt.
Um wieder eine Industrie aufzubauen, wurde der Umfang der Aktivitäten deutlich gesteigert.
Am Anfang steht Südfrankreich. Der Textilingenieur Ueli Ramseier (47), auf dessen Initiative Swiss Silk entstanden ist, begegnete dort Mitte der 80er-Jahre zufälligerweise einer Gruppe, die Raupenzucht betreibt.
Ramseier, der sich damals mit dem Einstieg in die Landwirtschaft gerade einen lang ersehnten Wunsch erfüllte, dachte sofort daran, die Seidenindustrie in der Schweiz wiederaufbauen zu wollen.
«Nicht aus nostalgischen Gedanken. Es war ein wirtschaftliches Projekt», sagt Ramseier. Ziel ist es, den Schweizer Bauern eine neue Einkommensquelle zu verschaffen.
Traditionsreiche Schweizer Industrie
Die Geschichte der Seide beginnt in China. Über die Seidenstrasse brachten Zürcher Handelsleute im 13. Jahrhundert die Rohseide von Norditalien in die Schweiz. Daraufhin erlebten die Zucht und der Verkauf der Seide eine Blüte, und die Schweiz exportierte die im Land hergestellte Seide sogar nach Südfrankreich, England, Prag oder Ungarn.
Obschon die Produktion während der Reformation endete, erholte sie sich wieder und entwickelte sich zu einer der wichtigsten Industrien der Schweiz.
Was diese Kernindustrie beinahe gänzlich zunichte machte, war die so genannte Fleckenkrankheit, die sich Mitte des 19. Jahrhunderts in ganz Europa ausgebreitet hatte.
Diese Infektionskrankheit, welche die Larven der Seidenraupe angreift, fügte der europäischen Seidenraupenzucht erheblichen Schaden zu. So verlor auch die Seidenindustrie in der Schweiz nach und nach ihre Kraft.
Verschwinden des Know-hows
Gemäss Ramseier gibt es in der Schweiz gegenwärtig fast niemanden, der über Wissen zur Seidenraupenzucht verfügt. Deshalb bleibt Swiss Silk bei allem, was getan wird, nichts anderes als das Ausprobieren.
Man hat herausgefunden, dass der Anbau von Maulbeere bis 650 Meter Höhe über dem Meeresspiegel möglich ist. Momentan wird versuchsweise auch auf einer Höhe von 750 Meter über Meer angebaut. Der Anbau selber bereitet zwar nicht allzu viele Probleme, doch der Ertrag der Ernte lässt noch zu wünschen übrig.
Für die Seidenraupenzucht werden verschiedene Arten von Eiern aus Italien und Frankreich importiert. Obwohl sie robuster sind als diejenigen aus Japan, würde Ramseier sehr gerne einmal die beiden «reinrassigen» Seidenraupen kinshūshōwa und shunreishōgetsu züchten.
Ab diesem Sommer beginnen nebst Ramseier drei weitere Bauernhöfe mit der Zucht von Seidenraupen und sechs mit dem Anbau von Maulbeerbäumen. Im Heim von Ramseier in einem Vorort der Stadt Bern wird eines der drei Badezimmer als Zuchtstätte benutzt.
Dort kann man zuschauen, wie ein paar hundert Raupen dreier verschiedener Arten, die Anfang August ausgebrütet worden sind, die klein geschnittenen Maulbeerblätter vertilgen. Es handelt sich um die zweite Test-Zucht nach derjenigen im Mai dieses Jahres.
In fünf Jahren ein Fazit
Swiss Silk plant, die Seidenraupenzucht im gegenwärtigen Umfang für drei bis fünf Jahre versuchsweise fortzusetzen, um die Rentabilität zu ermitteln. Sollte sich herausstellen, dass kein Gewinn herausspringt, wird der Traum eines Wiederaufbaus der Seidenindustrie in der Schweiz definitiv begraben.
Es ist geplant, nächsten Frühling etwa 2000 Maulbeerbäume zu pflanzen, im September eine kleine Zucht zu betreiben und mit der daraus gewonnenen Rohseide erstmals Seidenstoff zu weben.
Swiss Silk gehören zur Zeit 45 Mitglieder und 20 Hersteller an. Neben den Bauernbetrieben, die Seidenraupen züchten, machen auch traditionsreiche Spinnereien wie die Firma Camenzind mit. Das Projekt wird laut Ramseier offenbar unterstützt: «Technische Schwierigkeiten kann man irgendwie lösen, aber das grösste Problem sind die hohen Personalkosten in der Schweiz.» Deshalb ist man bemüht, die Produktionskapazität zu erhöhen.
«Die Seidenraupe erhöht ihr Körpergewicht in 30 Tagen 8000-fach und bringt das Material der Seide hevor. Davor habe ich Hochachtung. Swiss Silk wächst nur langsam, aber das ist vielleicht einfach das Schweizer Tempo. Die bisherigen Ergebnisse sehen gut aus. Ich bin zuversichtlich, dass das Projekt Erfolg haben wird.»
Ramseier, der von seinem im letzten Jahr verstorbenen Vater stets ermutigt worden ist, hat es endlich bis hierher geschafft.
Chihaya Koyama, Hinterkappelen, swissinfo.ch
(Übertragung aus dem Japanischen: Mika Kunz)
Weltweite Kokon-Produktion
(2005, Quelle: FAO (UNO-Organisation für Ernährung und Landwirtschaft)
1. China (290’000 Tonnen)
2. Indien (77’000 Tonnen)
3. Usbekistan (17’000 Tonnen)
4. Brasilien (11’000 Tonnen)
5. Iran (6000 Tonnen)
6. Thailand (5000 Tonnen)
7. Vietnam (3000 Tonnen)
8. Südkorea (1500 Tonnen)
9. Rumänien (1000 Tonnen)
10. Japan (600 Tonnen)
1. Anbau der Maulbeere
Es wurden mehrere Arten der Maulbeere angeschafft und deren Überwinterungsfähigkeit geprüft. Bis zu einer Höhe von 650 Metern über dem Meeresspiegel ist der Anbau möglich.
Um den Ertrag der Ernte zu optimieren, werden die Bäume gestutzt. So soll ein hohes Anwachsen verhindert und das Sammeln der Blätter vereinfacht werden. Bis die Setzlinge herangewachsen sind und eine genug grosse Erntemenge gewonnen werden kann, dauert es etwa 5 Jahre.
2. Seidenraupenzucht
In der Erntezeit der Maulbeere von Anfang Mai bis Mitte Oktober wird vier Mal gezüchtet.
3. Produktion der Rohseide
Im Winter, also während der Ruhezeit der Landwirtschaft, wird die Rohseide hergestellt. Bisher ist es noch nicht dazu gekommen.
Die Menge an Rohseide, die gegenwärtig in den Schweizer Seidenspinnereien jährlich verarbeitet wird, beträgt 250 Tonnen. Die Branchenkenner schätzen, dass Raum für die Verarbeitung weiterer 10 Tonnen vorhanden ist. Um 10 Tonnen Rohseide herzustellen, werden etwa 300’000 Maulbeerbäume benötigt.
Anfragen von Bauernbetrieben erfolgen zwar in grosser Zahl, doch während der Testphase wird beabsichtigt, den Umfang der Produktion klein zu halten.
Da es keine Sponsoren gibt, züchtet jeder Betrieb versuchsweise und auf eigene Kosten. Swiss silk hat die Daten der Seidenraupenzucht gesammelt und eine Formel der Produktionsmenge von Rohseide entwickelt.
Das Enderzeugnis wird vom Anbau der Maulbeere bis zur Herstellung der Seidenprodukte gänzlich in der Schweiz gefertigt. Für die Verwendung der kontrollierten Herkunftsbezeichnung (AOC) ist ein Gesuch gestellt worden, weil die Herstellung von hochwertigen Produkten im oberen Preissegment angestrebt wird.
Bei den Seidenraupen, die momentan für das Projekt verwendet werden, handelt es sich um Arten aus Frankreich und Italien. In der Schweiz stellen Privatpersonen die Eier der Seidenraupe her, um diese Arten aufrecht zu erhalten.
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