Dialekt verstehen: Damit Anderssprachige «druus chöme»
Wer Deutsch spricht, versteht bei Schweizer Dialekten meist Bahnhof. "Chunsch druus?" ist eine neue, multimediale Überlebenshilfe, die Neuankömmlingen Brücken zur sprachlich komplexen Welt der Bewohner der Deutschschweiz baut.
Michaela Keryova «chunnt druus». Obwohl der Herr am Schalter im Bahnhof Zürich der Germanistin aus der Slowakei partout nur Züridüütsch antwortet.
«Ich habe ihn verstanden und die gesuchte Strasse gefunden», sagt die Studentin, die an der Universität Freiburg einen Master in Mehrsprachigkeit macht.
Es war die Verstehkompetenz, dank der Michaela Keryova in der fremden Stadt «überlebt» hat. Und genau dies ist das Ziel, das die Sprachwissenschafter der Universität Freiburg mit ihrem Angebot zum Drauskommen verbinden: Anderssprachige, die in Ausbildung, Beruf oder im Rahmen der Integration mit Deutschweizerinnen und Deutschschweizern in Kontakt kommen, sollen in Situationen des Alltags überleben können. Ohne sich die Tortur anzutun, Dialekt selber sprechen zu lernen.
Reiseführer zu Sprache und Menschen
«Chunsch druus?» ist ein Lernpaket und Trainingsprogramm, das sich sämtlicher medialer Techniken von heute bedient. Es besteht aus einem Buch im praktischen Reiseführerformat, aus einer DVD, vier CD-Roms und nicht zuletzt aus einer Lizenz zur Nutzung eines vielfältigen Online-Angebots.
«Zielpublikum sind alle, die Standarddeutsch verstehen und sprechen und sich in der Deutschschweiz bewegen», sagt Raphael Bethele, Projektleiter und Professor am Institut für Mehrsprachigkeit an der Uni Freiburg.
Dazu gehörten Personen aus der Westschweiz oder dem Tessin, die studien- oder berufeshalber mit Deutschweizern zu tun haben sowie Ausländer und hier insbesondere Deutsche in der Schweiz. Nicht zu vergessen Anderssprachige, die aus familiären Gründen die Deutschschweizer besser verstehen wollen.
Realität in Bild, Ton und Wort
Die Lernbeispiele stammen meist aus der Praxis. Etwa Beiträge der Dialekt-Sendungen «Schweiz aktuell» und «Meteo» des Schweizer Fernsehens. «Wir wollten kein künstliches Material präsentieren, sondern die Realität abbilden, so wie sich die Deutschschweiz selbst darstellt», sagt Mitautor Martin Müller vom Institut für Mehrsprachigkeit der Universität Freiburg.
Wer bei der Bestellung oder dem Bezahlen der Rechnung im Restaurant, beim Einkaufen, bei der Wohnungssuche, in der Vorlesungspause an der Uni, im Büro oder im Ausgang mit Kolleginnen und Kollegen nicht «untergehen» will, kann zwischen Überlebenshilfen in den vier Dialekten Bern-, Basel-, Züri- und St. Gallerdüütsch wählen.
Ohren spitzen!
Bei Vermissen des Geldbeutels kommt je nach Mausklick die Frage «Het öpper mis Portmonnaie gseh?» in warm-rundem Berndeutsch oder als spitz-verzweifeltes «Hätt öpper mii Portmonnee gsee?» daher.
Wie trickreich, und für eben dieses Portmonnaie ziemlich verhängnisvoll Dialekt für Anderssprachige sein kann, illustriert Müller an der Bezahlszene im Restaurant, wenn die Bedienung «Vierzehn» verlange. Wie solle da der des Dialekts unkundige Gast wissen, ob 4 Franken 10 Rappen oder 14 Franken gemeint sind, fragt Müller?
Spiel, Spass und Ernst
Mit spielerischen Elementen wie dem Aufdecken von virtuellen Memory-Karten oder Dialekt-Chansons oder –Songs von Mani Matter oder Polo Hofer würden Unterschiede zwischen Standarddeutsch und Dialekt herausgearbeitet, sagt Ko-Autor Lukas Wertenschlag.
«Die Lernenden können sich so Regeln aufbauen, die sie dann anwenden können», sagt der Sprachwissenschafter, der an der Juristischen Fakultät der Uni Freiburg Deutschkurse für Anderssprachige gibt.
Mittendrin statt nur dabei
Die sprachliche Verstehkompetenz ist aber nicht einziges Ziel des Dialekttrainings. «‹Chunsch druus› soll auch das interkulturelle Verständnis fördern, indem die Lernenden besser mit der Deutschschweiz vertraut werden», erklärt Martin Müller.
Dass dies kein frommer Wunsch ist, zeigt das Beispiel Philippe Humberts. Der Freiburger Slawistikstudent besuchte während zweier Jahre Kurse an der Uni Bern. «Die Vorlesungen in Deutsch waren kein Problem. In den Pausen dagegen, wenn die Studenten Dialekt sprachen, wurde es für mich sehr schwierig.»
Dank des «Chunsch druus?»-Trainings steht Humbert heute in einer Dialektrunde nicht mehr im sprachlichen Abseits. «Ich habe keine Komplexe mehr und kann problemlos nachfragen, wenn ich etwas nicht verstehe.»
Trotz Mitkommen beim Plaudern in der Pause sind es aber einfache Begriffe, die es Humbert angetan haben: «Schätzeli» (Liebling) und «äuä» (passend in fast allen Situationen, als Frage wie Ausruf…) sind seine beiden Lieblingswörter.
Die Brücke nach Bern hält: Humbert besucht die Bundesstadt immer noch regelmässig, um mit seinen ehemaligen Studienkolleginnen und -kollegen auszugehen.
Federnden Schrittes zum «Chuchichäschtli»
Um den Lernenden ihren Weg zum besseren Verständnis der Dialekt sprechenden Mitmenschen zu erleichtern, sind die Übungen flexibel praktizierbar. «Man muss nicht zuhause am Computer sitzen, sondern kann sie auf den MP3-Player herunterladen und dann im Zug oder beim Joggen hören», sagt Lukas Wertenschlag.
Am meisten Spass macht die Annäherung an die Deutschschweizer aber in der Gruppe. Noch nie habe sie in einem Kurs so viel gelacht wie bei «Chunsch druus», sagt Michaela Keryova.
Renat Künzi, Freiburg, swissinfo.ch
Das Lernpaket «Chunsch druus? Schweizerdeutsch verstehen – die Deutschschweiz verstehen» ist im Schulverlag.ch erschienen und kostet 58 Franken.
Es umfasst ein Buch, eine DVD sowie vier Audio-CDs.
Weiter im Umfang ist eine Lizenz zur Nutzung eines breiten Online-Angebots.
Der Begriff Hochdeutsch ist irreführend, weil er nur etwas über den Stand der Entwicklung der Sprache aussagt, insbesondere, was die Abgrenzung zum Niederdeutschen betrifft.
Korrekte Bezeichnung ist deutsche Standardsprache, im Gegensatz zu Dialekt. Dialekte in der Deutschschweiz sind paradoxerweise hochdeutsche Dialekte.
Es gibt auch niederdeutsche Dialekte, etwa in Norddeutschland.
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