Die Eisenbahn als Instrument der Integration
Die Gotthardbahn feiert heute offiziell ihr 125-jähriges Bestehen. Sie hat die Geschichte der Eidgenossenschaft politisch und wirtschaftlich stark geprägt.
Während die Arbeiten um den Alptransit voranschreiten, inspirieren die Jubiläums-Festlichkeiten zu Gedanken, die über Schiene und Bahn hinausführen. Ein Gespräch mit dem Historiker und Publizist Orazio Martinetti.
swissinfo: Als erstes ein Blick zurück – welchen Einfluss hatte die Gotthard-Bahn auf die Schweiz und das Tessin?
Orazio Martinetti: Der unmittelbare Einfluss ist sichtbar in Form von Verkehrs- und Handelsstatistiken. Denn dank dem Gotthardtunnel war der Verkehr unabhängig von der Jahreszeit geworden.
Und für die immer etwas dünnhäutige Tessiner Wirtschaft entpuppte sich der Tunnel als Sauerstoff-Zufuhr aus dem Norden.
So konnte die Tessiner Granit-Industrie nun ihren Stein als Baumaterial auch ins Mittelland schicken.
Schliesslich ist der Einfluss auf den Tourismus nicht zu vergessen, auf die «Industrie der Ausländer», wie man damals zu sagen pflegte. Aus den Eisenbahnwagen der Gotthardbahn stiegen Massen von Eidgenossen, Deutschen und Engländern – alle fasziniert von der sonnigen «Vorstube Italiens», als die sie das Tessin erachteten.
Man sprach von einem «Tessin der guten Hoffnung», was wirtschaftlich gesehen damals einiges verhiess.
Doch die Eisenbahn hatte auch einen politischen und symbolischen Einfluss. Politisch integrierte erst der neue Schienenweg den Kanton als vollwertiges Mitglied in die Eidgenossenschaft. Auf symbolischer Ebene brachte die Schiene Moderne, Technologie und Wissenschaft ins Tessin.
Ich glaube, erst die Bahn beendete das «Ancien Regime» südlich der Alpen.
swissinfo: Und jetzt ein Blick nach vorne. Wie sehen Sie die Perspektiven des Tessins entlang dieses Schienenstrangs?
O.M.: Ich habe ein etwas pessimistisches Bild. Nur schon der Unterhalt der bestehenden Bahninfrastruktur kostet die SBB jährlich 50 Mio. Franken. Weshalb sollten die SBB nun mit den beiden neuen Transversalen Lötschberg und Basistunnel für den alten Gotthard-Tunnel noch dieselbe Summe aufwenden?
Das Risiko, dass der alte Gotthard-Tunnel zum Abstellgeleise wird, besteht also. Der Gotthard-Tunnel als Touristenbahn? Da liebäugeln die Kantone Uri und Tessin mit einer Anerkennung durch die Unesco. Aber wie wird die Unesco den Tunnel als dritte Kandidatur nach den Burgen von Bellinzona und dem Monte San Giorgio noch akzeptieren wollen?
swissinfo: Der Tunnel vereinnahmt Mythen, Hoffnungen und Ängste. Gibt es von den Erzählungen der Reisenden des 19. Jahrhunderts bis zur weniger romantischen Gegenwart einen Bezug?
O.M.: Romantik ist ja oft etwas, das erst im nachhinein vergeben wird. Die Bauarbeiten rund um den Tunnel waren ja alles andere als romantisch, wohl eher von Blut und Tränen durchtränkt. Die medizinischen Befunde von damals zeugen von einer desolaten Situation.
Es ist auch verständlich, dass die damaligen Reisenden der Ober- und Bürgerschicht darüber hinwegsahen und lieber reissende Bäche, Wälder und ewigen Schnee betrachteten, um dann in den blauen Himmel Italiens einzutauchen – dort, wo die Limonen blühen.
Heute betrachten wir den Gotthard kaum noch als Altar der Nation, sondern als ein Bergmassiv wie viele andere. Überwunden, beschädigt, durchstochen und gezähmt.
Die moderne Bohr-Technologie hat den Begriff der Alpen relativiert.
swissinfo: Der Begriff Gotthard-Tunnel ist auch mit dem Schicksal der meist italienischen Gastarbeiter verknüpft, die den Durchbruch oft genug mit ihrem Leben bezahlten. Hatte dies Auswirkungen auf die Beziehung zwischen «Ausländern» und Lokalen?
O.M.: Die Presse damals berichtete von zunehmender Animosität zwischen Zuzügern und Eingesessenen. Aus den kleinen Bergdörfern wie Airolo oder Göschenen waren ja vielsprachige internationale Kleinstädte mit ungeordneten «Favelas» geworden.
Zu den eh prekären Lebensumständen gesellte sich dann noch eine diffuse Spekulation. In wenigen Jahren waren Tausende von Arbeitern eingewandert. Nicht alle betätigten sich als Mineure, Bauführer oder Handlanger. Die Presse schrieb, dass viele Italiener statt zu arbeiten betteln, Wirtshäuser besuchen und sich Messerstechereien liefern würden.
Da sich in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts auch die Nationen formierten und Deutschland und Italien entstanden, gab es Spannungen auch auf dieser Ebene.
Heute ist das alles anders. Es gibt nur noch wenige Arbeiter, und die haben kaum Kontakt mit der Bevölkerung, reisen oft nach Hause und konsumieren wenig.
swissinfo: Was bleibt uns als Lehre aus den Erfahrungen rund um den Gotthard?
O.M.: Technisch betrachtet bleibt die Gotthardbahn ein geniales Stück Ingenieursarbeit. Historisch gesehen bleibt eine Art von Wildwest-Erfahrung. So wurde im Juli 1875 in Göschenen ein Arbeiteraufstand mit Gewehrschüssen niedergestreckt.
Im Geschichtsunterricht auf unseren Schulen darf nie eine Lektion über die Gotthardbahn fehlen.
Interview swissinfo, Françoise Gehring, Lugano
(Übertragung aus dem Italienischen: Alexander P. Künzle)
Am 8. und 9. September 2007 feiern die SBB in Biasca und Erstfeld den Geburtstag der Gotthardbahn.
Für das Publikum ist als Höhepunkt eine interaktive Show und eine Ausstellung über das Rollmaterial vorgesehen.
Ausserdem öffnet das Infozentrum für den Alptransit in Pollegio die Türen.
Eingerichtet werden auch ein Pendelbetrieb zwischen Erstfeld und Biasca sowie Stände mit Information, Spielen und Wettbewerben.
1830 wird die Tremola über den Sankt Gotthard eröffnet, eine befahrbare Strasse für Postkutschen.
1882 Inbetriebnahme des Eisenbahntunnels, Einsatz der ersten Dampflokomotiven.
1919-1924: Elektrizifierung der Eisenbahnlinie.
1926: Postautos ersetzen die Postkutschen.
1980: Eröffnung des Autobahntunnels.
Der Journalist Orazio Martinetti ist Historiker. Er leitete während vielen Jahren die Coop-Wochenpublikation «Cooperazione» mit Sitz in Basel.
Zurück im Tessin, übernahm er die wöchentlich erscheinende sozialkritische «area». Er schrieb auch für die Kulturseiten des Giornale del Popolo und arbeitet zur Zeit für Rete Due (Radio der italienischen Schweiz).
Martinetti hat auch am historischen Archiv des Kantons Tessin mitgearbeitet und schrieb zahlreiche Artikel über die Geschichte des Gotthards, besonders aus der Sicht der Arbeiter.
Der Basistunnel unter dem Gotthard wird mit 57 km der weltlängste Eisenbahn-Durchstich. Die Eröffnung war ursprünglich für 2011 vorgesehen, wurde aber auf 2018 verschoben.
Der 34,6 km lange Lötschberg-Basistunnel ist am 15. Juni eingeweiht worden. Die jüngsten Schätzungen sprechen von 4,3 Mrd. Franken Aufwand.
Zu Beginn waren die Kosten der beiden Projekte auf 14,7 Mrd. Franken veranschlagt worden. Daraus sind inzwischen 24 Mrd. geworden.
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