Schweizer Perspektiven in 10 Sprachen

«Die Griechenland-Krise kann die EU vorwärtsbringen»

Die Krise Griechenlands hat Zwietracht zwischen den Ländern der Europäischen Union gesät, die sich uneinig über den Notfallplan für Athen sind. Keystone

Der Gipfel der Europäischen Union (EU) vom Donnerstag und Freitag in Brüssel wird wohl zum Lackmustest für die Eurozone werden. Zerstritten über die Form der Hilfe an Griechenland, fänden sich die Länder in einer noch nie dagewesenen Situation, schätzt ein Schweizer Experte.

Kaum hat sich die EU nach dem Inkrafttreten des Vertrags von Lissabon ein neues institutionelles Aussehen gegeben, findet sich die Union bereits mit einer Herausforderung konfrontiert, die ihre ökonomische Form verändern könnte.

Die Schwierigkeiten Griechenlands stellen die Eurozone vor eine harte Probe.

Daher wird die Griechenland-Krise wohl die Agenda des EU-Gipfels vom Donnerstag und Freitag in Brüssel bestimmen.

Noch bis in den Mittwochabend hinein hatten Diplomaten um eine Einigung auf den Notfallplan für Athen gerungen – bisher mit keinem konkreten Ergebnis.

Denn hinter der Frage, ob eine Lösung für Griechenland gefunden wird, steckt auch die Problematik, wie sich die EU wirtschaftlich steuern und regeln soll.

Nicolas Levrat, Direktor des Instituts für Europapolitik der Universität Genf, ist der Meinung, die Union erlebe derzeit eine «sehr unsichere aber sehr interessante» Zeit. Doch sie werde diese meistern, ist er überzeugt.

swissinfo.ch: Griechenland helfen, Deutschland nicht brüskieren, das wirtschaftlicher Hilfe sehr abgeneigt ist, den neuen institutionellen Rahmen einhalten… Kann die EU diese schwierige Gratwanderung meistern?

Nicolas Levrat: Ich glaube, sie schafft das. Es gibt tatsächlich mehrere Problemebenen: Erst mal muss sie kurzfristig den Ernst der Krise anerkennen.

Global gesehen ist der Kurssturz des Euros für sich nicht dramatisch, das passiert auch dem Dollar. Doch entgegen dem, was mit Portugal geschehen ist, oder auch mit Frankreich und Deutschland, die sich nicht an die Regeln des Stabilitätspakts gehalten hatten, tanzen jetzt auch externe Akteure mit, die Märkte.

Man ist also nicht mehr nur unter sich und es ist darum das erste Mal, dass mit den hohen Zinsen ein echter Einfluss auf die Refinanzierung der Schulden eines Mitgliedslandes der Eurozone zu spüren ist.

Das zweite Problem ist struktureller Art: Es stellt sich die Frage, ob die relativ dringlichen Massnahmen, die für Griechenland ergriffen werden müssen, in Zukunft jedes Mal zum Einsatz kommen, sollte ein Euro-Land in eine ähnliche Situation geraten.

In diesem Fall müssten Regeln aufgestellt werden, um das wirtschaftliche Steuerungssystem der Eurozone zu verbessern.

swissinfo.ch: Welches sind mögliche Wege? Noch am Dienstag haben Sarkozy und Zapatero erklärt, diese Frage müsse vertieft werden. Ein möglicher europäischer Währungsfonds wurde erwähnt.

N.L.: Verschiedene Modelle sind denkbar. Doch alle stehen vor dem Problem, dass man zuerst wissen muss, ob man einen gemeinsamen Schuldenpool der EU-Staaten schaffen muss oder nicht.

Heute sind einige Staaten, symbolisch, absolut dagegen, den gemeinsamen Anteil am europäischen Budget zu erhöhen, die Verschuldung mit eingeschlossen, weil dies ein noch grösseres und irreversibleres Engagement am Projekt der europäischen Integration bedeuten würde.

In der Tat stellt die Griechenland-Krise die EU in eine noch nie dagewesene Situation. Sie hinterfragt die politische, wirtschaftliche und rechtliche Situation der Länder der Euro-Zone.

Debatten um ihre Budget- und Währungsautonomie gab es schon in der Zeit vor Maastricht, als man die Währungsunion geschaffen hatte. Schon damals ging die Idee einer europäischen Wirtschaftsregierung herum.

Die einzige Sicherheit ist im Moment, dass diese Frage zurück zur politischen Frage führt, ob die Staaten bereit sind, im Prozess der Integration weiter zu gehen.

swissinfo.ch: Was von Seiten Deutschlands kaum der Fall sein wird…

N.L.: Wie oft der Fall, wenn die EU entscheidet, muss Deutschland bezahlen, die Zustimmung Berlins ist also notwendig. Deutschland spielt innerhalb der EU eine zentrale und entscheidende Rolle.

Die Krise Griechenlands stellt die Regierung Merkel vor das Problem, dass die deutsche Bevölkerung traumatisiert auf Inflation und Verschuldung reagiert. Die Gründe dafür sind offensichtlich historisch. Der Druck von innen ist also beträchtlich.

swissinfo.ch: Was ist in dieser Situation von der Euro-Zone zu erwarten? Lässt sich ein Krisenszenario vermeiden?

N.L.: Wir sprechen über rund 50 Mrd. Euro, mit denen die EU Griechenland zu Hilfe eilt, eine beträchtliche Summe. Aber ich erinnere daran, dass die Schweiz 65 Mrd. Franken aufgeworfen hat, um die Grossbank UBS vor dem Untergang zu retten.

Mathematisch ist der Euro also nicht in Gefahr. Solche droht im dann, wenn Befürchtungen aufkommen sollten, dass die wichtigsten Länder nicht mehr mitspielen würden.

swissinfo.ch: Der griechische Premier Papandréou hat mehrere EU-Staaten beschuldigt, «die politische Bedeutung des Euro» zu unterschätzen. Kann die Wirtschaftskrise das politische Projekt EU gefährden?

N.L.: Das hängt davon ab, auf welchem Weg Europa aus der Krise findet. Die Geschichte zeigt, dass Krisen bisher immer durch Lösungen gemeistert wurden, die sich im Nachhinein als Fortschritt in der EU-Integration entpuppten.

In diesem Prozess der Integration könnte die Griechenland-Krise einen weiteren wichtigen Schritt darstellen.

Carole Wälti, swissinfo.ch

7. Dezember 2009. Die Rating-Agentur Standard & Poor’s stuft Griechenland zurück. Ausschlaggebend ist eine Budetkrise.

6. Januar 2010. Ein Mitglied der Europäischen Zentralbank (EBZ) beklagt sich, dass nicht alle EU-Länder bereit sind, «für die Rettung Griechenlands zum Portemonnaie zu greifen». Jetzt reagiert die Börse mit Kursverlusten.

Mitte Januar. Die Wirtschaftsminister der Euro-Zone erklären, die EU werde nicht akzeptieren, dass Griechenland den IWF um Hilfe bittet. Athen kündigt drastische Sparmassnahmen, nachdem es verdächtigt wurde, die Zahlen seines Budgetdefizits gefälscht zu haben. Die Banken trauen Griechenland nicht und erhöhen den Leitzins auf über 6%. Auch Portugal kommt in den Strudel der Märkte.

28. Januar. Der Euro erreicht gegenüber dem Dollar den tiefsten Stand seit sechs Monaten. Spekulanten sind der Ansicht, dass die griechische Situation auch auf Spanien zutrifft. Die «Financial Times» beziffert die Spekulation gegen den Euro auf 8 Milliarden Dollar.

Mitte Februar. Die deutsche Bundeskanzlerin Merkel verlangt, dass alle EU-Länder ihren Haushalt nach denselben Richtlinien aufstellen.

Anfang März. Merkel erklärt einem europäischen Rettungsplan eine Absage. Athen legt auf Druck von Brüssel ein weiteres Sparpaket vor. Die EBZ betont, dass die Euro-Zone gesund sei.

23 März. Drei Tage vor einem Gipfel in Brüssel ermahnt EU-Kommissionspräsident José Manuel Barroso Deutschland, den Hilfsplan für Griechenland zu unterstützen.

Der Stabilitätspakt umfasst eine Reihe von Richtlinien, deren Einhaltung die Länder der Euro-Zone zugesagt haben, um vor allem die Neuverschuldung der Mitgliedsstaaten zu begrenzen.

Die beiden wichtigsten Kriterien des Paktes legen ein maximales Defizit unter 3% des Bruttoinlandprodukts (BIP) fest sowie eine Staatsverschuldung unter 60% des BIP.

2009 betrug das Staatsdefizit in Griechenland rund 12,7% des BIP. Die europäische Kommission schätzt, dass die griechischen Schulden 2010 voraussichtlich 125% des BIP erreichen werden. Das ist weit höher als in jedem anderen Land der Eurozone.

Beliebte Artikel

Meistdiskutiert

In Übereinstimmung mit den JTI-Standards

Mehr: JTI-Zertifizierung von SWI swissinfo.ch

Einen Überblick über die laufenden Debatten mit unseren Journalisten finden Sie hier. Machen Sie mit!

Wenn Sie eine Debatte über ein in diesem Artikel angesprochenes Thema beginnen oder sachliche Fehler melden möchten, senden Sie uns bitte eine E-Mail an german@swissinfo.ch

SWI swissinfo.ch - Zweigniederlassung der Schweizerischen Radio- und Fernsehgesellschaft

SWI swissinfo.ch - Zweigniederlassung der Schweizerischen Radio- und Fernsehgesellschaft