Schweizer Perspektiven in 10 Sprachen

Die gute Zahlungsmoral der Schweizer ist Vergangenheit

Die Zahlungsmoral in der Schweiz sinkt. swissinfo.ch

Lange galten die Schweizer als Musterschüler beim Begleichen von Rechnungen und Schulden. Damit ist es vorbei: Immer häufiger wird mit Verspätung oder gar nicht mehr bezahlt.

Dieser Trend bringt Firmen in Schwierigkeiten und der Schweizer Wirtschaft Verluste in Milliardenhöhe.

Aus dem guten Vorbild ist ein schlechtes geworden. Bis zum Ende der 80er Jahre zeichneten sich die Schweizerinnen und Schweizer durch ihre traditionelle Pünktlichkeit und Zuverlässigkeit bei Zahlungen und der Rückerstattung von Schulden aus.

Heute rangiert die Schweiz hingegen im internationalen Vergleich im unteren Bereich. Dies geht aus einer Statistik von Intrum Justizia hervor, einem führenden Unternehmen für Finanzdienstleistungen im Bereich Inkasso und Kreditschutz in der Schweiz. 22 Länder wurden miteinander verglichen.

Gemäss dem jüngsten Risk Index (Risiko-Index) bleibt die Hälfte der Rechnungen nach Ablauf der 30-tägigen Zahlungsfrist ungedeckt. Nach 60 Tagen sind immer noch ein Viertel der Rechnungen nicht bezahlt und nach 90 Tagen noch ein Zehntel.

Es wird davon ausgegangen, dass 1,8% des Gesamtumsatzes von Rechnungen in der Schweiz nie beglichen wird. Selbst Italien, das eigentlich in Finanzangelegenheiten keinen guten Ruf geniesst, schneidet besser ab. Dort beträgt die Rate nur 0,8%.

Wirtschaftliche und soziale Gründe

Heute erfolgt die Bezahlung von Rechnungen im Durchschnitt 15 Tage nach Ablauf der Zahlungsfrist. Vor zwei Jahren lag die Verzögerung noch bei 10 Tagen. Und vor zwei Jahrzehnten war dieses Phänomen vollkommen unbekannt.

Die Entwicklung hängt mit der langen wirtschaftlichen Stagnation und Rezession zusammen. In den 90-er Jahren erreichte die Arbeitslosigkeit ihre höchsten Werte seit einem halben Jahrhundert. Auch die Zahl der Firmenkonkurse wuchs exponentiell an.

Beide Phänomene haben nach einer Erholungsphase ab 2001 wieder markant zugenommen. Viele Personen befinden sich erneut in wirtschaftlichen Schwierigkeiten.

«Die finanzielle Situation vieler Menschen hat sich unter anderem in Folge der kontinuierlichen Prämienerhöhungen der Krankenkassen sowie der steigenden Lebenskosten bei gleichbleibenden Löhnen merklich verschlechtert», meint Bettina Jacques, Medienbeauftragte von Intrum Justizia.

Ihrer Meinung nach kommen zu den wirtschaftlichen auch soziale Gründe hinzu. Beispielsweise hat sich die Zahl der Scheidungen und die Anzahl alleinerziehender Eltern merklich erhöht.

Einstellung hat geändert

Doch die finanziellen Schwierigkeiten vieler Personen hängen auch mit einer geänderten Mentalität zusammen.

«Bis vor 20 oder 30 Jahren bezahlten die Schweizer nicht nur schnell ihre Rechnungen, sondern vermieden auch unter allen Umständen eine Verschuldung. Der Gedanke Schulden zu haben, raubte vielen Leuten den Schlaf», meint Eveline Küng, leitende Fürsprecherin der Heinz Küng AG in Bern.

Das Blatt hat sich gewandelt: Heutzutage finden die Gläubiger keinen Schlaf mehr. Auch in der Schweiz wird längst nicht mehr gezögert einen Kredit aufzunehmen, selbst wenn man weiss, dass die Mittel für eine Rückzahlung fehlen.

«Viele Personen haben sich an einen bestimmten Luxus gewöhnt und wollen auch in Krisenzeiten nicht auf ihren Lebensstandard verzichten», stellt Eveline Küng fest.

Der neue Trend ist auch bei der Jugend festzustellen. Viele junge Menschen werden von ihren Eltern nicht mehr zu einem vernünftigen Umgang mit Geld erzogen. Dadurch finden es Heranwachsenden fast normal, mehr Geld auszugeben als man verdient.

Zudem stellt die heutige Gesellschaft zahlreiche Konsumfallen auf, die zu Verschuldung führen. Leasing, Kreditkarten, Bancomat, Ratenzahlung, etc.

Schlechte Zahlungsmoral

Der Mythos von Geld und Konsum lässt zudem Tausende von Menschen zu eigentlichen Konkursprofis werden. Obwohl viele schon diverse Konkurse hinter sich haben, finden sie Mittel und Wege zu einer erneuten Verschuldung.

Und dann gibt es die Kategorie von Schuldnern, die mit Zinsen spekulieren. Indem sie Zahlungen um mehrere Monate verzögern, können sie es häufig vermeiden, Kredite mit hohen Zinsen (in der Regel mehr als 10%) aufnehmen zu müssen.

Ganz egal, aus welchem Grund die Rechnungen nicht beglichen werden: Für Unternehmungen sind die Folgen happig. 43% aller kleinen und mittleren Unternehmungen (KMU) in der Schweiz geben an, Liquiditätsschwierigkeiten zu haben, weil die Rechnungen mit Verspätung bezahlt werden.

«Jedes Jahr müssen in Europa Tausende von Firmen als Folge dieses Problems ihren Betrieb einstellen, auch in der Schweiz», sagt Peter Neuhaus, Direktor der Stiftung KMU Schweiz.

Die schlechte Zahlungsmoral wirkt sich auf die Nationalökonomie aus: Die Ausstände, verspätet bezahlte Rechnungen und das Inkasso von Krediten kostet Schweizer Firmen inzwischen 2% ihres Gesamtumsatzes. 10 Mrd. Franken pro Jahr gehen so verloren.

Prävention und Erziehung

Nur 70% der Inkasso-Prozeduren sind heute von Erfolg gekrönt. Deshalb setzen die auf Inkasso spezialisierten Firmen vermehrt auf Prävention. So soll potentiell schlechten Zahlern bereits am Verkaufspunkt das Handwerk gelegt werden.

Damit ihre Kunden keine unnötigen Risiken eingehen, werden unter anderem riesige Bonitäts- beziehungsweise Schuldnerdatenbanken angelegt. Mehrere Millionen Privatpersonen und Firmen sind in Bezug auf ihre Garantien und Zuverlässigkeit bereits erfasst. Diese Liste unterliegt allerdings dem wachsamen Auge des Bundesamts für Datenschutz.

Ausserdem werden die Führungspersönlichkeiten von Firmen geschult, um die legalen Mittel zur Schuldeneintreibung voll auszuschöpfen: Telefon, Briefe, Mahnungen und Zahlungsbefehle.

«Viele Firmen lassen Monate verstreichen, bevor sie bei Schuldnern vorstellig werden. Dabei wissen wir, dass die Chancen gering sind, nach einer Zahlungsfrist von 90 Tagen einen ausstehenden Betrag überhaupt noch einzutreiben,» sagt Bettina Jacques.

«Viele Unternehmen wollen ihre Schuldner nicht unter Druck setzen, weil vielleicht lang gehegte Geschäftsbeziehungen auf dem Spiel stehen», gibt Peter Neuhaus zu Bedenken. Doch dann befänden sie sich plötzlich selber in finanziellen Problemen und in der Folge womöglich die eigenen Lieferanten.

Wie Tausende von Schuldnern müssen auch viele Gläubiger noch lernen, ihre finanzielle Situation besser zu regeln.

swissinfo, Armando Mombelli
(Übertragung aus dem Italienischen: Gerhard Lob)

47% aller Rechnungen sind nach einer Zahlungsfrist von 30 Tagen noch nicht beglichen
26% nach 60 Tagen
11% nach 90 Tagen
1,8% aller Rechnungen wird nie bezahlt

Gemäss Erhebungen des Verbandes Creditreform haben 2003 genau 4539 Firmen (+13% im Vergleich zu 2002) und 5140 Privatpersonen (+7,1%) Konkurs angemeldet. Es handelt sich um die höchsten Zahlen seit dem Rekordjahr 1997.

Ende 2003 hat die Anzahl der Arbeitslosen mit 162’835 Personen erneut das Niveau von 1998 erreicht. Dies entspricht einer Rate von 4,1%.

Seit 1997 sind die Prämien der Krankenkassen jährlich im Mittel um 7% gestiegen. Im Jahr 2003 ist die Zahl der Sozialhilfeempfänger um 10% gegenüber dem Vorjahr gestiegen.

In Folge der wirtschaftlichen Schwierigkeiten hat die Zahlungsmoral bei vielen Privatpersonen, aber auch bei Firmen stark nachgelassen.

Das einstige Musterland Schweiz schneidet heute im internationalen Vergleich unterdurchschnittlich ab.

Immer mehr Rechnungen werden nach Ablauf der Zahlungsfrist beglichen. Dies schafft Schäden für die gesamte Volkswirtschaft.

Beliebte Artikel

Meistdiskutiert

In Übereinstimmung mit den JTI-Standards

Mehr: JTI-Zertifizierung von SWI swissinfo.ch

Einen Überblick über die laufenden Debatten mit unseren Journalisten finden Sie hier. Machen Sie mit!

Wenn Sie eine Debatte über ein in diesem Artikel angesprochenes Thema beginnen oder sachliche Fehler melden möchten, senden Sie uns bitte eine E-Mail an german@swissinfo.ch

SWI swissinfo.ch - Zweigniederlassung der Schweizerischen Radio- und Fernsehgesellschaft

SWI swissinfo.ch - Zweigniederlassung der Schweizerischen Radio- und Fernsehgesellschaft