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Die zwei Wahrheiten der Zweiten Säule

Das Schweizer System der Beruflichen Vorsorge steht unter Druck. Dazu kommen Unterschiede innerhalb der Anbieter selbst: Pensionskasse haben es einfacher als Privatversicherungen.

Die schwindenden Börsengewinne, die die Renditen seit über zwei Jahren schrumpfen lassen, decken die Blössen des Schweizer Systems der Beruflichen Vorsorge auf (siehe Link: Tabubruch nach der Sommerpause) Nun beginnt sich zusätzlich abzuzeichnen, dass diese als «Zweite Säule» bekannte Vorsorge eigentlich aus zwei Bereichen besteht, die jeweils eigenen Gesetzmässigkeiten folgen, was zumindest nicht im Sinne der anfänglichen Gesetzgebung lag.

So haben grössere Unternehmen und Branchen seit Jahrzehnten ihre eigenen Pensionskassen aufgebaut, die die Gelder ihrer Versicherten verwalten. Hingegen mussten kleinere und mittlere Unternehmen (KMU) ihre Angestellten mit Kollektivverträgen bei privaten Versicherungsunternehmen wie der Winterthur oder der Rentenanstalt für die «Zweite Säule» versichern, ab 1985 obligatorisch. Diese Zweiteilung hat seither zu Diskriminierungen geführt.

Vermögensverwaltung: Zwei ungleiche Ellen

Es zeichnet sich immer mehr ab, dass diese beiden Varianten der Beruflichen Vorsorge ungleiche Chancen hatten – von Beginn weg. Nur unter den Pensionskassen gibt es (noch) Unterschiede zwischen öffentlichen und privaten.

So mussten die öffentlich-rechtlichen keinen maximalen Deckungsgrad (siehe unten) von 100% ausweisen, weil bisher in der Not der Staat eingesprungen wäre. Und die autonomen Pensionskassen hätten im Fall einer Unterkapitalisierung eine zeitliche Beschränkung mit den Bundesämtern (Aufsichtsbehörde) aushandeln können.

Solch large Auslegungen durften sich die Privatversicherungen nicht leisten. Folge: Sie verwalteten deshalb ihre BV-Gelder viel konservativer als die Pensionskassen, wie Jacques-André Schneider, Pensionskassen-Experte und Lehrbeauftragter an der Universität Lausanne, schätzt.

Damit erreichten sie aber weniger attraktive Anlagerenditen. Was wiederum wenig bekannt ist, weil die Versicherer diesen Umstand lange nicht transparent machen wollten.

Unterschiedliche Aktienanteile

Vor den Medien rechneten die Privatversicherungen letzten Juli vor, dass sich ihr Aktienanteil auf lediglich 29% belief (im Jahr 2000), gegenüber bis 38% bei den Pensionskassen. Je höher der Aktienanteil, desto besser die Rendite (in guten Börsenzeiten), desto höher aber auch das Risiko (in Börsenbaissen). So belief sich die BV-Rendite bei Privatversicherern lediglich auf 5,6% (1987 bis 2001), bei den Pensionskassen auf 8,3% (1996 bis 2000).

KMU: Aufwändige Klientel

Pensionskassen brauchen überdies kein Geld für Marketing, da sie über das Unternehmen mit ihrer Kundschaft verbunden sind. Privatversicherungen jedoch müssen sich mit den KMU-Kunden abfinden, was höhere Betriebskosten nach sich zieht (weniger Leute pro Unternehmen, mehr Informationsbedürfnis, etc.). Daher ist das Bedürfnis der Privatversicherer nach einer Senkung des Mindest-Zinssatzes auch viel grösser als bei den Pensionskassen.

So sieht sich der Bund (die Schweizer Regierung) vor dem Ende der Sommerpause in der Zwickmühle: Senkt er den Zinssatz nicht, verlieren die Privatversicherer die Lust am freiwilligen Angebot einer obligatorischen Versicherungsvariante.

Und die privatwirtschaftliche Durchführung des gesetzlichen Auftrags beginnt zu wackeln. Drückt die Regierung die Senkung durch, verärgert sie die Massen berufsversicherter Arbeitnehmer.

In Frage gestellt wird damit das Funktionieren einer privatwirtschaftlichen und dezentralisierten Organisation der Beruflichen Vorsorge, wie dies mit der so genannten «Zweite Säule» gesetzlich vorgesehen ist. Die «Erste Säule», die staatliche Organisation der allgemeinen Vorsorge, ist die Alters- und Hinterlassenenversicherung, die AHV.

Um die Aktie kommt man nicht herum

Die staatliche Vorsorge wird mit Lohnprozenten direkt finanziert. Die privatwirtschaftliche Vorsorge funktioniert nicht ohne den Kapitalmarkt. Und dieser verlangt auch nach der Aktie. Nur rentieren Aktien ausschliesslich bei langfristigem Anlagehorizont.

Auch hier gelten in der «Zweiten Säule» wegen der gleichen gesetzlichen Vorschriften zur Absicherung zwei Wahrheiten (Deckungsgrad): Privatversicherer arbeiten mit 10- bis 15jährigen Verträgen mit ihrer KMU-Kundschaft, was sie zwingt, ständig einen hohen Deckungsgrad bereit zu halten. Pensionskassen hingegen rechnen mit bis zu 40 Jahren Zeithorizont, denn das mit ihnen verbundene Unternehmen ist viel langfristiger gebunden.

Fallende Aktienkurse respektive länger dauernde Börsenbaissen wirken sich deshalb auf Pensionskassen weniger stark aus als auf Privatversicherer, die eher Schaden davontragen.

Alexander P. Künzle und swissinfo

Deckungsgrad: Der Deckungsgrad definiert sich als das für versicherungsmässige Risiken verfügbare Vermögen mal 100 dividiert durch das aktuell versicherungstechnisch benötigte Vorsorgekapital (in Prozent). Fällt diese Zahl unter 100%, spricht man von Deckungslücke.

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