Dutti der Riese
Martin Witz beleuchtet am Filmfestival Locarno Gottlieb Duttweiler, eine herausragende Schweizer Persönlichkeit, die man entweder verehrt oder gehasst hat.
Der Migros-Gründer, liebevoll «Dutti» genannt, wird in vielen bunten Facetten gezeigt. Der Film ist ein spannendes Stück Schweizer Geschichte des 20. Jahrhunderts mit ein paar kleinen Mängeln.
«Ich habe diesen Kino-Dokumentarfilm aus Vergnügen und Respekt vor einem ganz grossen Mann realisiert, der im letzten Jahrhundert die Schweiz wahrscheinlich im Alleingang so stark verändert hat wie fast keiner ausser ihm», sagt Martin Witz, Drehbuchautor und Regisseur von «Dutti der Riese» gegenüber swissinfo.
Die Idee stammt von Andres Pfaeffli, dem Inhaber der Ventura Film Produktion, welche den Film auch produziert hat. «Ich habe nicht lange gebraucht, um zu kapieren, dass das ein Stoff ist, der sich lohnt, auf die Leinwand gebracht zu werden», so Witz.
«Dutti der Riese» sei übrigens absolut unabhängig und ohne Unterstützung der Migros-Industrie entstanden, versichert Witz. Lediglich vom Migros-Kulturprozent sei ein üblicher Dokumentarfilmbeitrag gekommen.
Gegner oder Verehrer
«Mein Vater war Goldschmied und trotzdem Migros-Genossenschafter», bringt es meine Sitznachbarin im bis auf den letzen Platz besetzten Vorführsaal in Locarno auf den Punkt. Denn Gottlieb Duttweiler war mit seiner Migros von Mitte der 20er-Jahre des letzten Jahrhunderts an das Feindbild des Schweizer Gewerbes.
Dieses Schreckensbild, das auf vielen Fotos mit Hut und Zigarre posierte, war tatsächlich ein Mann mit erstaunlichen Eigenschaften: Aus fast jedem Hindernis, mit dem ihn seine Konkurrenz aus dem Rennen werfen wollte, machte Dutti einen Baustein für sein gigantisches Lebenswerk.
Wenn man ihm gewisse Markenartikel nicht mehr liefern wollte, kreierte er kurzerhand eigene. So wurde beispielsweise aus dem koffeinfreien Kaffee Hag der Kaffee Zaun. Wenn ihm die mächtigen Ölkonzerne kein billiges Benzin verkaufen wollten, kaufte er das Öl selbst aus unabhängigen Quellen ein und liess es in einer von ihm initiierten Raffinerie in Deutschland gleich aufbereiten.
Dutti und seine Ehefrau Adele, seine wichtigste Stütze, Kritikerin und Beratin im Hintergrund, lassen sich aber nicht auf profit-orientierte Wirtschaftmagnaten reduzieren. Sie definierten auch den Begriff des «Sozialen Kapitals», dass sich Starke zugunsten der Schwachen einschränken, eine freie Marktwirtschaft mit sozialer Verantwortung.
Daraus entstand zum Beispiel das «Kulturprozent», eine Organisation, die ein Prozent des Migros-Umsatzes zur Unterstützung kultureller Projekte einsetzt.
Dutti erzählt
Dutti war ein Mediengenie. Er verstand es, lange bevor Boulevardmedien begannen, Politik und Welt zu personalisieren, sich und seine Anliegen gekonnt in Szene zu setzen.
So kann Martin Witz Dutti in einer Vielzahl von Bild- und Tondokumenten auferstehen lassen. «Ich habe versucht, zu zeigen, wie er war und was er wollte. Und dank dem reichlich vorhandenen Ton- und Filmarchivmaterial ist mir das ein Stück weit auch gelungen.»
Dutti würde sich im Grab umdrehen…
Heute heisst es oft: «Wenn Dutti das wüsste, würde er sich im Grab umdrehen.» Dies gilt insbesondere für Alkohol und Tabak, die Duttweiler im Interesse der Volksgesundheit aus seinen Läden verbannt hat. Heute wird dieses Verbot von der Migros elegant umgangen, indem andere Läden in die Supermärkte integriert werden, welche diese Produkte verkaufen.
«Ja, man kann vermuten, dass er sich da im Grab umdreht», meint Martin Witz. «In anderer Hinsicht ist es jedoch plötzlich nicht mehr so klar. Wenn man die Grösse der Migros anschaut, die in einigen Aspekten wohl zu Recht kritisiert wird, ist man nicht sicher, was Dutti dazu sagen würde. Er hätte vielleicht auch Freude, dass sein Modell funktioniert, dass es all die Jahrzehnte nicht nur überlebt hat, sondern immer stärker wurde.»
Diese wichtigen Punkte werden im Film leider nicht einmal angesprochen. Das Werk beginnt und endet mit Gottlieb Duttweilers Tod. Die Ausstrahlung seines Lebenswerks auf die Gegenwart kommt dabei etwas zu kurz.
Einäugig?
Kritik an Duttweilers Person wird in diesem Film, wenn überhaupt, nur von Parlamentariern der von ihm gegründeten Partei, des Landesrings der Unabhängigen, geäussert.
Martin Witz: «Was die Linke oder die Rechte gegen ihn hatte, das kann man sich relativ gut ausdenken, das kommt auch zum Vorschein.»
Leider wird es aber nicht ausgesprochen, und das ist ein Mangel an diesem spannenden, sonst sehr einfühlsam und gut recherchierten Film, der ab September in den Deutschschweizer Kinos zu sehen sein wird.
Sind die Macher etwa selbst dem Mediengenie Dutti ein wenig auf den Leim gegangen?
swissinfo, Etienne Strebel, Locarno
1888 geboren in Zürich
1908 kaufmännischer Lehrabschluss
1913 Heirat mit Adele Bertschi
1920 Währungskrise, Zusammenbruch «seiner» Firma P&D
1923 GD kauft 2400 ha-Farm in Brasilien
1924 Verkauf der Farm und Rückkehr in die Schweiz
1925 Gründung der Migros AG, Verkauf von Zucker, Teigwaren, Kaffee, Reis, Kernseife und Kokosfett in 5 umgebauten Lastwagen
1926 erster Migros-Verkaufsladen in Zürich
1928 Beginn der Eigenproduktion (Süssmost)
1931 Expansion nach St. Gallen, Basel, Bern. GD kopiert Markenartikel (aus Kaffee Hag wird Kaffee Zaun, aus Ovomaltine Eimalzin)
1932 Gründung der Migros Berlin
1933 Nach Hitlers Machtergreifung Aufgabe der Migros Berlin
1935 Gründung der Genossenschaft «Hotelplan»
1936 Gründung der Partei Landesring der Unabhängigen (LdU)
1939 Ausbau der «Tat» zur Tageszeitung
1941 Umwandlung der Migros-Aktiengesellschaften in Migros-Genossenschaftsbund (MGB)
1944 Sprachkurse, Geburtsstunde der Migros Clubschulen
1950 MGB beteiligt sich am Buchklub Ex Libris
1954 Gründung Migrol (Tankstellen) und Migros Türk
1957 Einführung Kulturprozent, Migros-Bank öffnet ersten Schalter
1959 Einstieg ins Versicherungsgeschäft mit der Secura AG
1960 Pläne für «Forum Humanum (Friedens-Think Tank)
8. Juni 1962 Tod Gottlieb Duttweiler
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