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Eigernordwand: Traum und Alptraum

Der Helikopter hat die Bergrettung revolutioniert. Keystone

Der Eiger im Jungfrau-Massiv der Berner Alpen feiert dieses Jahr einige Jubiläen. Die spektakulären Besteigungen haben aber auch dem Rettungswesen Entwicklungsimpulse versetzt.

«Der Eiger als Berg hat mich schon immer fasziniert. Aber ich habe auch immer den nötigen Respekt für ihn aufgebracht. Mit Angst hat das nicht zu tun», sagt Kurt Amacher, Chef der Grindelwaldner Bergrettung gegenüber swissinfo.

Vor 150 Jahren wurde der 3970 Meter hohe Eiger in den Berner Alpen zum ersten Mal bestiegen. Vor 70 Jahren wurde die Eigernordwand zum ersten Mal durchstiegen und vor 30 Jahren erfolgte die erste Alleinbegehung im Winter. Das Jahr 2008 ist das Jahr der Eiger-Jubiläen.

Eng damit verknüpft ist auch die Geschichte der Eiger-Bergrettung. «In den letzten 50 Jahren wurden in diesem Bereich grosse Fortschritte erzielt», erklärt Amacher.

«Blicke ich in meine Jugendzeit zurück, ins Jahr 1957, habe ich die Rettung des Italieners Claudio Corti vom Eigergipfel her in lebhafter Erinnerung», erzählt Amacher, seit 1973 Mitglied der Bergrettung Grindelwald und seit 1993 deren Chef.

Revolutionäres Stahlseilgerät

Cortis Rettung aus der Eigernordwand wurde durch das zum ersten Mal auf dem Eigergrat montierte Stahlseilgerät möglich. Dieses stellte das damalige Rettungswesen auf den Kopf. Dank einer speziellen Kupplung können Retter vom Eiger-Gipfelgrat bis 800 Meter in die Tiefe gelassen und wieder hochgezogen werden.

Dann folgte die Zeit, als Hubschrauber Retter und Rettungsmaterial an den jeweiligen Ort flogen und ab 1971 die erste Helikopter-Direktrettung, indem man den Retter an einer Heli-Seilwinde in die Wand flog. Dieser packte den in Not geratenen Alpinisten in einen Sack und liess sich mit ihm wieder aus der Wand fliegen.

«Heute ist das praktisch der Standard, wenn das Wetter stimmt», erklärt Amacher. Und dann, Anfang der 1990er-Jahre, erfolgte der «gewaltige Schritt mit der so genannten Longline», so Amacher. «Wir hatten plötzlich ganz andere Möglichkeiten, denn unter dem Helikopter konnte man ein Seil mit bis zu 230 Meter Länge installieren.»

Damit konnte man das Fluggerät weiter von der Wand entfernt halten.

«Dank der modernen Helirettung setzen wir das Stahlseilgerät fast nicht mehr ein», erklärt Rettungschef Amacher. «Brauchte man früher für eine Stahlseilrettung 20 Mann und 1 bis 2 Tage Arbeit, ist heute eine Rettung per Helikopter auch mit einem langen Seil eine Sache von 2 bis 3 Stunden.»

Die Retter müssen aber immer damit rechnen, dass ein Helikopter-Einsatz nicht möglich ist. «Deshalb trainieren wir den Einsatz mit dem Stahlseil nach wie vor», so Amacher. «Wir sind sechs- bis zehnmal pro Jahr in der Eigernordwand. Das Stahlseilgerät jedoch kommt nicht jedes Jahr zum Einsatz.»

Gefährliche Mobil-Kommunikation

Für eine weitere grosse Veränderung sorgte das Aufkommen des Mobiltelefons. So musste man früher beim Durchsteigen der Nordwand damit rechnen, dass einem niemand zu Hilfe kommen konnte. «Heute ist das anders», sagt Amacher. «Heute hat jeder sein Handy in der Tasche, und wenn nur das Geringste passiert, ruft er mit dem Ding Hilfe herbei.»

Auf den ersten Gedanken unlogisch klingt Amachers Aussage, dass an einem schönen Sommernachmittag der Einsatz des Helikopters in der Eigernordwand praktisch unmöglich sei.

Durch die Sonneneinstrahlung wird das Oberflächengestein gefährlich instabil. «Wenn man bedenkt, dass der kleinste Stein auf den Hubschrauberrotor das Gerät zum Absturz bringen kann, muss man schon ganz genau wissen, was man da tut.»

Unvorsichtig wegen zu guter Ausrüstung

Das Ausrüstungsmaterial der Kletterer ist in den letzten Jahren viel besser geworden. Setzen Bergsteiger die so erlangte Sicherheit mit der Wahl riskanterer Routen wieder aufs Spiel?

Kurt Amacher bejaht das. «Früher liess sich einer, der nicht Top-Alpinist war, gar nicht erst auf ein solches Unternehmen ein. Heute hat man viel mehr Leute in der Wand, die dort nicht hingehören.» Deshalb haben die Bergretter heute viel mehr Einsätze als früher.

Die Eigernordwand ist fast so bekannt wie das Matterhorn im Wallis, das einige schon in Turnschuhen zu bezwingen versuchten.

Bei der Nordwand ist der Einstieg schroff, sieht gefährlich aus, ist aber relativ einfach. «Doch dann kommt man in den Bereich des ‹Schwierigen Risses› und dieser ist eine absolute Eintrittprüfung», macht Amacher den Unterschied zum Matterhorn klar.

Und wenn der bekannte «Hirnstoisser» überwunden sei, gäbe es praktisch kein Zurück mehr. «An dieser Stelle werden die schlechtesten Bergsteiger schon mal aussortiert.»

swissinfo, Etienne Strebel

1858 (vor 150 Jahren): Erstbesteigung durch den Iren Charles Barrington und zwei Grindelwaldner Bergführer.
1878 (vor 120 Jahren): Erste führerlose Besteigung.
1938 (vor 70 Jahren): Erstdurchsteigung der Eigernordwand.
1968 (vor 40 Jahren): Erstbegehung der Polenroute am Eiger Nordpfeiler.
1978 (vor 30 Jahren): Erste Alleinbegehung im Winter.

1909: Gründung der Rettungsstation Grindelwald

1935-1939: Run auf Eigernordwand. Die Grindelwaldner möchten ihre Leute nicht mehr der Gefahr aussetzen, Leichtsinnige zu retten. Die Berner Regierung erlässt ein Verbot der Besteigung der Nordwand, das 1936 wieder aufgehoben wird.

1938: die Österreichisch-Deutsche Seilschaft «Harrer-Heckmair-Kasparek-Vörg» bezwingt die Nordwand. Die Route heisst bis heute Heckmair-Route.

1957: Erstmaliger Einsatz des Stahlseils in der Schweiz bei der Rettung von Claudio Corti aus der Nordwand.

1959: Für die Bergung des toten Stefano Longhi werden erstmals Stahlseil und Rettungswinde eingesetzt.

1960: Erste leichte Rettungen mit dem Helikopter.

1967: Erste Bergung von drei Leichen mit dem Helikopter aus der Nordwand.

1970: Erste Winterrettung aus der Eigernordwand.

1971: Erste Direktrettung mit dem Helikopter.

1994: Erste Longline-Direktrettung in der Nordwand.

1994-2001: Über 10 Longline-Rettungen mit Seillängen zwischen 60 und 230 Metern.

1996: Erste Nachtrettung einer Zweierseilschaft.

swissinfo.ch

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