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Ein Jahr nach Überlingen

Der Jahrestag wühlt ein Unglück auf, das für alle Betroffenen noch nicht abgeschlossen ist. Keystone Archive

Vor einem Jahr starben beim Flugzeug-Zusammenstoss bei Überlingen am Bodensee 71 Menschen. Die Schweizer Flugleitstelle trug einen Teil der Verantwortung.

Am 2. Juli fand nun in Überlingen eine Gedenkfeier statt, an der auch die Schweizer Aussenministerin Micheline Calmy-Rey teilnahm.

«Das Ereignis hat sich im Gedächtnis der Bürger festgebohrt», sagt Volkmar Weber, Oberbürgermeister der deutschen Stadt Überlingen (Baden-Württemberg) gegenüber den Nachrichtenagenturen. Und zu den Stuttgarter Nachrichten: «Früher haben wir gar nicht registriert, was da für ein Betrieb über uns ist. Aber jetzt schauen wir mit anderen Gefühlen zum Nachthimmel.»

Der Jahrestag des Flugzeugunglückes löst bei der lokalen Bevölkerung gemischte Gefühle aus. «Das wühlt alles wieder auf», sagt ein Anwohner.

Drama am Nachthimmel

Vor einem Jahr, am 1. Juli kurz vor Mitternacht, prallten in 11 Kilometern Höhe zwei Flugzeuge seitwärts ineinander. Brennende Trümmer regneten in einem Umkreis von 30 Kilometern zu Boden.

Die russische Tupolew-Maschine war mit 47 Schulkindern und 22 Begleitern von der Baschkirischen Hauptstadt Ufa unterwegs in die Ferien nach Spanien. Die Boeing 757 des Frachtdiensts DHL war mit zwei Piloten auf dem Weg nach Brüssel.

Gedenkfeiern

Am Montag (30. Juni) nahmen rund 140 baschkirische Angehörige von Absturz-Opfern sowie 20 Regierungsvertreter der russischen Teilrepublik in Überlingen an einer Gedenkfeier teil.

Sie kamen mit Polizisten, Feuerwehrleuten und Mitgliedern des Kriseninterventions-Teams zusammen, die vor einem Jahr bei der Bergung der Opfer beteiligt waren und die Angehörigen betreuten.

Damals hatten im grössten Einsatz in der Geschichte des Bundeslandes über 6000 Beamte mitgewirkt. Am Montag Abend formierten sie sich zu einem Schweigemarsch und besuchten eine der Absturzstellen auf einem Feld bei Überlingen.

Am Mittwoch fand dann im Beisein von Hinterbliebenen in Überlingen eine offizielle Gedenkfeier statt. Für die Schweiz nahm Bundesrätin Micheline Calmy-Rey an der Feier teil.

Sie sprach den Hinterbliebenen der Flugzeugkatastrophe vom Bodensee im Namen der Schweiz ihr Mitgefühl und ihr tiefes Beilied aus. Die Schweiz hoffe, dass der Entschädigungsfonds den Familien der Opfer ermöglichen werde, in Ruhe zu trauern, sagte die Aussenministerin in Überlingen.

Schweigeminute und Gedenk-Inserat

Am Dienstag hatte die skyguide-Belegschaft um 13 Uhr eine Schweigeminute eingelegt. Gleichentags hatte die Flugsicherungs-Stelle zudem in der NEUEN ZÜRCHER ZEITUNG und in der Genfer Zeitung LE TEMPS ein Gedenk-Inserat publiziert. Die Anzeige wurde auch im süddeutschen SÜDKURIER und in der internationalen Ausgabe der HERALD TRIBUNE geschaltet.

Unfallhergang ungeklärt

Noch in der Nacht des Zusammenstosses hatten die Spekulationen über mögliche Schuldige begonnen. Schnell geriet die Schweizer Flugsicherung skyguide in die Kritik. Sie leitet die Flugzeuge über süddeutschem Gebiet vom Flughafen Zürich aus.

Der Pilot der Tupolew erhielt widersprüchliche Anweisungen von seinem bordeigenen Kollisions-Warnsystem TCAS und dem skyguide-Fluglotsen: So folgte er der Aufforderung des Lotsen zum Sinkflug, obwohl das TCAS unmittelbar zuvor das Kommando zum Steigen gegeben hatte.

In der Unglücksnacht kämpfte skyguide mit technischen Problemen. Dies geht aus einem Zwischenbericht der Bundesstelle für Flugunfalluntersuchung (BFU) in Braunschweig vom August 2002 hervor.

Warnung kam nicht durch

Laut dem deutschen Nachrichtenmagazin «Focus» habe die BFU bei ihren Ermittlungen zwölf Absturz-Faktoren eruiert und dabei festgestellt, dass bei skyguide das Fluglotsen-Radarwarngerät und die Telefonleitung zeitweise abgeschaltet waren.

Der Fluglotse soll die Abschaltung der Telefonleitungen für Wartungsarbeiten erlaubt haben. Weil die Reserveleitung nicht funktionierte, wurde er abgelenkt. Und ein Warn-Anruf der deutschen Flugsicherung in Karlsruhe soll nicht durchgekommen sein.

Im September will die BFU den Schlussbericht vorlegen.

Entschädigungs-Fonds mit unbekannter Höhe

Die Entschädigung der Angehörigen der Opfer sorgte ebenfalls für Schlagzeilen. Pünktlich zum traurigen Jahrestag hin, präsentierten die Schweiz, Deutschland und skyguide am letzten Freitag einen Entschädigungs-Fonds.

«Damit ist ein Grundstein gelegt, wir haben die schwierigste Hürde genommen», sagte skyguide-Anwalt Alexander von Ziegler. Über die Höhe des Fonds wurde Stillschweigen vereinbart.

Nach einer Meldung der «Stuttgarter Nachrichten» beteiligen sich die Schweiz und Deutschland freiwillig mit je 13,5 Mio. Franken am Fonds. Den Rest soll skyguide – respektive deren Versicherung – übernehmen.

50 Mio. Dollar genügen Opfer-Anwälten nicht

Der Fonds umfasse insgesamt 50 Mio. Dollar (67,6 Mio. Franken), sagte Michael Witti. Dem Berliner Anwalt, der mit zwei andern Anwalts-Kanzleien Hinterbliebene der Opfer vertritt, genügt das nicht.

«Wir halten an unserer Forderung von 1,5 Mio. Euro pro Sitzplatz fest», sagt er gegenüber swissinfo. Diese Forderung sei keineswegs abwegig, erklärte er mit Verweis auf die aussergerichtliche Einigung, in welcher Sulzer-Medica-Patienten 725 Mio. Dollar für fehlerhafte Hüftgelenke bezahlen musste.

«Mit dem Fonds zum Jahrestag soll in der Öffentlichkeit das Thema abgeschlossen werden», vermutet Witti. «Wer nachher noch mehr Geld für die Angehörigen fordert, steht dann in den Medien als raffgieriger Anwalt da.»

Unklare Rechtslage

Sollte die Entschädigungsfrage nicht als Vergleich, sondern vor Gericht enden, dürfte sie den Juristen noch mehr Kopfzerbrechen bereiten als jetzt schon, denn die Rechtslage ist nicht klar: Deutschland delegierte zwar die Flugsicherung im süddeutschen Raum seit Jahrzehnten an Skyguide, die Verantwortlichkeit wurde jedoch nie geregelt. Das soll jetzt in einem Staatsvertrag nachgeholt werden.

Im vom Schweizer Parlament abgelehnten Vertrag über die Lärmbegrenzung wäre auch die Haftungsfrage geregelt gewesen.

swissinfo, Philippe Kropf und Agenturen

Am 1. Juli 2002, gegen Mitternacht, stiessen eine russische Tupolew-Maschine und eine Boeing 757 der Firma DHL auf der deutschen Seite des Bodensees zusammen.

Aus 11’000 Metern Höhe regneten Trümmer im Umkreis von 30 Kilometern zu Boden. 47 Kinder und 24 Erwachsene starben.

Die Flugsicherung lag bei der Schweizer skyguide. Dort gab es in der Nacht mehrere technische Probleme. Fluglotsen-Radarwarngerät und Telefonleitungen sollen zeitweise abgeschaltet gewesen sein.

Die Hinterbliebenen sollen entschädigt werden. Zum Jahrestag präsentierten skyguide, Deutschland und die Schweiz einen Fonds, der 50 Mio. Dollar umfassen soll.

Das genügt den Anwälten der Hinterbliebenen nicht; sie fordern 1,5 Mio. Dollar pro Opfer. Notfalls wollen sie ihre Forderung vor Gericht einklagen.

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