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Ein Kanton probt den Aufstand

Bischof Piergiacomo Grampa solidarisiert sich mit den Streikenden in Bellinzona. Keystone

Seit über einer Woche streiken die SBB-Angestellten im Betriebswerk von Bellinzona. Seit 1918 gab es in der Schweiz im öffentlichen Dienst keinen Streik mehr.

Die Solidarität mit den Streikenden ist gross – selbst im bürgerlichen Lager. Kritische Fragen werden im Tessin kaum gestellt. Sie kommen aus der Deutschen Schweiz.

Streiks in der Schweiz sind eine Seltenheit. Und im öffentlichen Dienst sind sie eine absolute Rarität. Man muss bis zum Landesstreik vom November 1918 zurückblicken, um einen Arbeitsausstand zu finden, an dem sich Angestellte des öffentlichen Dienstes beteiligten.

Im Tessin sind es jetzt 430 Angestellte des SBB-Industriewerks Bellinzona, die ihre Arbeit niedergelegt haben. Sie protestieren dagegen, dass rund die Hälfte der Arbeitsplätze privatisiert und der Lokomotivunterhalt nach Yverdon verlegt werden soll.

Den Verlust von 126 Arbeitsplätzen wollen sie nicht schlucken, obwohl die SBB zugesagt haben, keine Entlassungen durchzuführen und zur Hilfe bei der Suche nach einem neuen Arbeitsplatz verpflichtet sind.

Grosse Solidarität

Die SBB-Angestellten werden in ihrem Kampf um das IW-Bellinzona von einer unglaublichen Solidaritätswelle getragen. Schulklassen aller Altersstufen besuchen die «Officine», Mütter bringen Kuchen vorbei, Musikgruppen treten auf, die Stadt Bellinzona spendete 100’000 Franken, die Stadt Lugano 80’000 Franken. Lokal werden Unterstützerkomitees gegründet.

Dutzende von Privatfirmen, die den Streik unterstützen, sind namentlich an den Wänden der Werkshalle aufgeführt. Der Widerstand treibt dabei teils seltene Blüten. So hisste der Stadtpräsident von Bellinzona, Brenno Martignoni, in Begleitung eines Polizisten die Stadtfahne in die Werkshalle – zwischen den Fahnen der Gewerkschaften Unia und SEV.

Um diese Solidaritätswelle zu verstehen, muss man einerseits wissen, dass am 20. April Gemeindewahlen sind. Da wollen sich alle Politiker in Pose setzen. Noch wichtiger ist aber, dass mit dem Abbau am SBB-Industriewerk ein Herzstück des industriellen Tessins und der Vergangenheit dieses Kantons getroffen wird.

Mit der Bahn gewachsen

Bellinzona ist dank der Gotthard-Linie und den SBB gewachsen, fast alle Familien haben Angehörige, die bei den SBB arbeiten oder gearbeitet haben. Zudem stehen die Industriewerke für gute Arbeitsbedingungen, eine solide Ausbildung für Lehrlinge und ein hohes Know-how. Jetzt wird befürchtet, mit einem Schlag all diese Errungenschaften zu verlieren.

Zudem werden die Restrukturierungspläne als Strafaktion der Deutschschweiz gegenüber Randregionen gesehen: «Das Tessin zahlt in der landesweiten Restrukturierung den teuersten Preis, obwohl die Werke hier gut funktionieren», sagt Gewerkschafter Giuseppe Sergi.

Die Peripherie müsse bluten. Dabei hätten Post, SBB, Swisscom und das Militär seit Anfang der 1990er–Jahre schon Hunderte von Stellen in der Südschweiz abgebaut. Im SBB-Restrukturierungsplan wird daher mehr Opfersymmetrie verlangt.

Landvögte sind wieder da

Politiker alle Couleur erklären denn auch, dass die SBB-Leitung nicht begriffen habe, welchen historischen Stellenwert die Bahnen für den Kanton Tessin und das angrenzende Italienisch-Graubünden einnähmen. Das Bild der «Deutschweizer Landvögte» geht wieder einmal um.

Zudem fühlt man sich an der Nase herum geführt, nachdem die (damaligen) SBB-Cargo-Spitzen noch vor einem Jahr erklärt hatten, ins Industriewerk Bellinzona 30 Mio. Franken investieren zu wollen.

Dies gesellt sich wiederum zum Gefühl vieler Tessiner, dass die italienischsprachige Schweiz in der Deutschschweiz weniger ernst genommen wird und in Bern an Einfluss verloren hat – ein Gefühl, das letztlich auch zur Gründung und zum Aufstieg der Protestbewegung «Lega dei Ticinesi» beigetragen hat.

Keine kritischen Fragen

Diese Ausgangslage hat dazu geführt, dass der Streik eine Eigendynamik bekommen hat. Niemand im Tessin traut sich, die Streikenden zu kritisieren. Selbst erzliberale Politiker schweigen lieber, als sich unbeliebt zu machen. Immerhin war ja auch der Bischof bei den Streikenden.

Wer auf der Webseite der Streikenden im Blog schrieb, man solle nach dem Dialogangebot der SBB vielleicht die eigene Haltung überdenken, wurde als Streikbrecher kritisiert.

Kritik an der Haltung im Kanton Tessin kommt hingegen aus der Deutschschweiz. Die «Neue Zürcher Zeitung» stichelte: «Bellinzona und Lugano, angeführt von Stadtpräsidenten der SVP und FDP, äufnen sogar die Kasse der wild Streikenden mit Steuergeldern. Was machen diese Stadträte, wenn dereinst ihre eigene Verwaltung streiken sollte?»

Betriebswirtschaftliche Kriterien

Der Berner «Bund» sieht in der Vehemenz der Proteste auch regionale Gründe: «Von der Industrie bis zum Tourismus fehlt eine unternehmerische Tradition. Bundesbetriebe sind Garanten für sichere Stellen und gegen Lohnerosion.»

Der Zürcher «Tages-Anzeiger» ruft hingegen all den Politikern, die sich mit SBB-Arbeitern in Bellinzona und in Freiburg solidarisieren, den elementaren Satz im Bundesgesetz über die Schweizerischen Bundesbahnen in Erinnerung. «Die SBB sind nach betriebswirtschaftlichen Kriterien zu führen.»

Der «Tagi» warnt vor der bevorstehenden Debatte im Nationalrat angesichts des Millionendefizits bei SBB-Cargo vor dem «Rückfall ins Subventionszeitalter.»

swissinfo, Gerhard Lob, Bellinzona

Am 7. März hat SBB-Chef Andreas Meyer ein umfangreiches Restrukturierungs-Programm für SBB Cargo vorgestellt. Das Unternehmen fuhr im vergangenen Jahr 190 Mio. Franken Verluste ein.

Insgesamt sollen bei SBB Cargo 401 Stellen abgebaut werden. Der Grossunterhalt von SBB Lokomotiven soll schrittweise in Yverdon konzentriert werden. Der Unterhalt von Güterwagen in Bellinzona soll künftig in Partnerschaft mit Unternehmen der Privatwirtschaft ausgebaut werden.

Verkaufs- und Auftragsbearbeitung sowie Kundeninformation wollen die SBB in Basel konzentrieren, das Kunden Service Center Freiburg auflösen und in die Zentrale von SBB Cargo integrieren.

Die Angestellten des SBB-Werks in Bellinzona sind nach Bekanntwerden dieser Pläne in einen unbefristeten Streik getreten. In Freiburg gab es punktuelle Arbeitsniederlegungen.

Die SBB-Pläne sind vorläufig sistiert, weil sich die Politik eingeschaltet hat. Am 19. März wird der Nationalrat in einer dringlichen Debatte über SBB Cargo sprechen.

Zeitgleich mit der Debatte im Nationalrat wird eine Gross-Demonstration der SBB-Angestellten und ihrer Familien in Bern stattfinden. Aus Bellinzona rollen drei Sonderzüge in die Hauptstadt.

Die Eidgenossenschaft ist Alleinaktionärin und damit Besitzerin des ehemaligen Bundesbetriebs SBB.

Ein direktes Gespräch zwischen SBB-Leitung und Streikkomitee des IW-Bellinzona hat am vergangenen Samstag kaum Ergebnisse gebracht.

Die Streikenden in Bellinzona verlangen Garantien für ihre Arbeitsplätze. Die SBB-Führung bezeichnet den Streik als illegal und fordert eine Rückkehr zur Arbeit.

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