Ein Übergangsjahr zwischen Bern und Brüssel
Im Laufe des Jahres 2007 haben sich die bilateralen Beziehungen zwischen der Schweiz und der EU kaum verändert. Einzig steuerpolitische Fragen liessen zwischenzeitlich die Emotionen hoch gehen.
Im neuen Jahr steht indes ein heisses Eisen auf der Agenda: Die Ausweitung der Personenfreizügigkeit auf Rumänien und Bulgarien.
«Das Jahr 2007 war in gewisser Weise anormal: Kein wichtiger Vertrag ist in Kraft getreten und es wurden keine Referenden zu EU-Themen lanciert», meint René Schwok, Professor für Politikwissenschaft am Institut für Europastudien der Universität Genf.
Laut Schwok gab es im Rahmen der bilateralen Beziehungen zwischen der Schweiz und der Europäischen Union (EU) eine Art «Übergangsjahr»: Die ersten beiden Pakete der bilateralen Verträge sind in Kraft getreten, das drittte Paket muss noch ausgearbeitet werden.
«Das einzig wichtige Dossier war der Streit um die Steuerprivilegien von Unternehmen in einigen Kantonen», sagt Schwok.
«Nichts zu verhandeln»
Die EU hatte im Februar den Druck auf die Schweiz erhöht. Die Steuerpraktiken einiger Kantone für Holdinggesellschaften verletzen laut EU-Kommission das Freihandelsabkommen von 1972. Die Schweiz reagierte gereizt. Es gebe «nichts zu verhandeln», antwortete Finanzminister Hans-Rudolf Merz.
Gemäss Merz betrifft das Freihandelsabkommen von 1972 nur den Warenhandel und stellt keinerlei vertragliche Regelung zur Angleichung der Unternehmensbesteuerung dar. Zudem sei die Besteuerung von Holdings in der föderalistischen Schweiz eine Angelegenheit der Kantone. Um dies zu ändern, bräuchte es eine nationale Volksabstimmung.
«Die grosse Frage ist, ob die EU erneut zum Angriff gegen Steuerparadiese bläst und es zum grossen Konflikt kommt», meint Schwok. Der EU-Botschafter in der Schweiz, Michael Reiterer, hat indes betont, dass die EU keine Eskalation in diesem Streitfall suche.
Offener Arbeitsmarkt
Änderungen brachte das Jahr 2007 in Bezug auf die Personenfreizügigkeit. Am 1. Juni kamen Angehörige der 15 alten EU-Mitgliedstaaten, von Malta und Zypern sowie der EFTA-Staaten (Island, Norwegen, Liechtenstein) in den Genuss der vollständigen Personenfreizügigkeit.
Die Zuwanderung von Einwohnern aus diesen Ländern unterliegt damit nicht mehr festgelegten Kontingenten. Die Aufhebung von Kontingenten für Zuwanderer aus diesen Staaten ist jedoch provisorisch.
Sollte sich bis 31. Mai 2008 eine hohe Zuwanderung aus den 15 alten EU-Ländern ergeben (mehr als 10% mehr als im Durchschnitt der drei vorangegangenen Jahre), würde das Freizügigkeitsabkommen der Schweiz ermöglichen, ab dem 1. Juni 2008 wieder Kontingente einzuführen (für 2 Jahre). Dies aufgrund einer speziellen Schutzklausel.
Bulgarien und Rumänien
Mit dem EU-Beitritt von Bulgarien und Rumänien am 1. Januar 2007 wird das bilaterale Vertragsnetz zwischen der Schweiz und der EU auch auf diese beiden Staaten ausgedehnt.
Gemäss dem Bundesamt für Migration befürworten Brüssel und Bern eine schrittweise und kontrollierte Öffnung des Arbeitsmarkts. Umstritten ist jedoch die Gültigkeitsdauer der Schutzklausel in Bezug auf diese Länder.
Im Verlaufe des Jahres 2008 werden die eidgenössischen Räte über die Weiterführung des Personenfreizügigkeitsabkommens entscheiden. Dieser Beschluss unterliegt dem fakultativen Referendum. Eine Referendumsabstimmung würde voraussichtlich Ende 2008 oder anfangs 2009 stattfinden.
Nach der Abwahl von Bundesrat Christoph Blocher und der Ankündigung eines Oppositionskurses glaubt René Schwok, dass sich das anti-europäische Engagement der SVP weiter verstärken wird: «Die SVP könnte ein Doppelreferendum lancieren: Gegen die Ausweitung der Personenfreizügigkeit auf Bulgarien und Rumänien sowie gegen die Verlängerung der Personenfreizügigkeit für die ersten 25 EU-Mitgliedsstaaten.»
Gesalzene Rechnung für die Kohäsion
Angesichts der Erweiterung der EU auf zwei neue Länder soll die Eidgenossenschaft einen neuen finanziellen Beitrag leisten (rund 330 Millionen Franken). Dieser Betrag gesellt sich zum Kohäsionsfonds in Höhe von einer Milliarde Franken, den Parlament und Schweizer Volk im Rahmen der Osterweiterung der EU bereits gut geheissen haben.
«Mit dem Ja zur Kohäsionsmilliarde im November 2006 haben wir implizit auch die Hilfsbeiträge für Rumänien und Bulgarien angenommen», meint Professor Schwok. Er glaubt daher nicht daran, dass der neue Kohäsionsbetrag ernsthaft in Gefahr ist.
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Referendum
Zukunft bietet auch Explosives
Während des Jahres sprach man auch von einer Reihe kleinerer Abkommen, beispielsweise in den Bereichen Landwirtschaft, Elektrizitätsmarkt und der öffentlichen Gesundheit. Einige dieser Dossiers könnten in Zukunft Sprengstoff bergen.
Laut Schwok gibt es eine Sicherheit: «Solange die EU existiert und die Schweiz eine Insel mitten in der EU ist, wird es bilaterale Abkommen brauchen. Es ist eine Geschichte ohne Ende.»
swissinfo, Luigi Jorio
(Übertragung aus dem Italienischen: Gerhard Lob)
Mit dem Beitritt von Bulgarien und Rumänien zur EU ist der europäische Binnenmarkt noch grösser geworden. Er zählt 490 Millionen Bürger und Konsumenten.
Zwei Drittel aller Exporte aus der Schweiz (im Wert von 110 Mrd. Franken) gelangen in die EU; vier Fünftel der Schweizer Importe (135 Mrd. Franken) stammen aus EU-Ländern.
Zwischen 1993 und 2005 ist der Handelsaustausch zwischen der Schweiz und der EU stetig um zirka 5 Prozent pro Jahr gewachsen.
Die EU stellt für die Schweiz den wichtigsten Partner bei Direktinvestitionen dar. Mehr als die Hälfte des investierten Auslandskapitals stammt aus der EU (125 Mrd.), während umgekehrt zirka 40% der Schweizer Direktinvestitionen in der EU erfolgen (200 Mrd.). Schweizer Unternehmungen beschäftigen in der EU zirka 850’000 Personen.
Zirka 390’000 Schweizer leben und arbeiten momentan in der EU. In der Schweiz leben umgekehrt rund 890’000 EU-Bürger. Darüber hinaus gibt es noch 180’000 Grenzgängerinnen und Grenzgänger.
Die Schweiz ist nicht Mitglied der EU. Die Beziehungen zur EU sind durch bilaterale Abkommen geregelt. Seit dem Freihandelsabkommen von 1972 ist das Regelwerk immer dichter geworden.
Die sieben bilateralen Abkommen I von 1999 regeln eine gegenseitige Öffnung der Märkte in bestimmten Bereichen: Personenfreizügigkeit, technische Handelshemmnisse, Beschaffungswesen, Landwirtschaft, Luft- und Landverkehr. Zudem wird mir dem Forschungsabkommen die Teilnahme der Schweiz an den Forschungsprogrammen der EU ermöglicht.
Die bilateralen Abkommen II (2004) umfassen zusätzliche wirtschaftliche Interessen und dehnen die Zusammenarbeit auf weitere politische Bereiche wie innere Sicherheit (Schengen/Dublin), Asyl, Umwelt oder Kultur aus. Teil der Dossiers ist auch die Zinsbesteuerung.
In seinem Europabericht (2006) kommt der Bundesrat (Regierung) zum Schluss, dass eine Ausweitung der bilateralen Abkommen den besten Weg in den Beziehungen zur EU darstellt, um die Interessen und Eigenständigkeit der Schweiz zu wahren. Der EU-Beitritt bleibt nur eine «langfristige Option».
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