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Entschuldigung von Bundesrat und Skyguide

Bundesrat Leuenberger (re.) entschuldigt sich für Schweizer Fehler bei der Katastrophe von Überlingen. Keystone

Der Bundesrat und die Schweizer Flugsicherung Skyguide haben Fehler im Zusammenhang mit der Flugzeug-Katastrophe von Überlingen anerkannt und um Verzeihung gebeten.

Die Entschuldigung folgte auf die Veröffentlichung des deutschen Untersuchungs-Berichts zum Absturz vom 1. Juli 2002.

Technische Mängel sowie menschliche Fehler bei der Schweizer Flugsicherung Skyguide und in der russischen Unglücksmaschine waren die Ursachen des Flugzeug-Zusammenstosses von Überlingen: Zu diesem Schluss kommt der am Mittwoch in Braunschweig veröffentlichte Schlussbericht der deutschen Bundesstelle für Flugunfalluntersuchung (BFU).

Eine Verkettung von Pannen, falschen Handlungen und Unterlassungen führten nach Darstellung der BFU zu der Katastrophe. Die Schweizer Flugsicherung wird hart kritisiert.

Die Tragödie hatte 71 Menschen das Leben gekostet, unter den Opfern waren zahlreiche Kinder. Die Schweiz werde alles daran setzen, dass die Opferfamilien vollumfänglich entschädigt würden, versicherte Verkehrsminister Moritz Leuenberger an einer Medienkonferenz am Mittwoch im Bundeshaus.

Verpflichtung zur Entschädigung der Opfer

Der BFU-Bericht zeige, dass in der Schweiz eine unmittelbare Ursache für die Katastrophe gesetzt worden sei. «Dies verpflichtet uns, die Opfer zu entschädigen, die Schuldigen strafrechtlich zu verfolgen und zu bestrafen und alles Erdenkliche vorzukehren, damit sich etwas Ähnliches nicht wiederholen kann», sagte Leuenberger.

Bundespräsident Joseph Deiss habe dem russischen Präsidenten Wladimir Putin in einem Brief versichert, dass die Schweiz die Verantwortlichkeiten für die Fehler eruieren und die Konsequenzen, auch strafrechtliche, ziehen werde. Das unermessliche Leid, das der Unfall verursacht habe, habe die Bevölkerung und die Behörden in der Schweiz tief getroffen.

Konstantine Pribyktov, Korrespondent von Itar-Tass in Genf, sagte gegenüber swissinfo, «der Brief von Bundespräsident Deiss an Putin ist wichtiger als die Worte von Skyguide».

Auch Skyguide bittet um Verzeihung

Skyguide habe sich sehr klar ausgedrückt – das sei gut so, sagt Pribyktov weiter. «Doch der Umstand, dass die Entschuldigung erst nach der Publikation des Abschlussberichts der deutschen Bundesstelle für Flugunfall-Untersuchung ausgesprochen wurde, lässt sie etwas erzwungen erscheinen.»

Auch Skyguide trat am Mittwoch vor die Medien. Die Verantwortlichen entschuldigten sich bei den Hinterbliebenen und präsentierten in Zürich eine Auslegeordnung der seit der Katastrophe getroffenen Massnahmen.

«Ich, wir alle, bitten um Verzeihung, wir bitten um Verzeihung», sagte Skyguide-Verwaltungsratspräsident Franz Kellerhals.

Kein Rücktritt des Skyguide-Chefs

Ein Rücktritt von Skyguide-Chef Alain Rossier sei aber kein Thema. «Rossier hat unser Vertrauen», so Kellerhals gegenüber swissinfo, «denn er war es, der die neue Sensibilität für Sicherheitsaspekte im Unternehmen eingeführt hat. Ginge er nun, würde dies Skyguide destabilisieren. Was wiederum schlecht für die Sicherheit wäre.»

Rossier selbst sagte dazu gegenüber swissinfo: «Wir haben sehr viel aus diesem tragischen Unfall gelernt. Es wäre für mich jetzt das einfachste, zu kündigen und wegzugehen. Aber das entspricht nicht meinem Charakter.»

Skyguide habe aber ihre Aufgabe in der Katastrophennacht nicht erfüllt. Auch Rossier bat die Familien ausdrücklich um Verzeihung. Er bedaure die am späten Abend des 1. Juli 2002 passierten Fehler.

Auf die Frage, weshalb erst jetzt um Verzeihung gebeten worden sei, räumte Rossier ein, die Skyguide-Verantwortlichen seien wahrscheinlich zu wenig gut auf eine solche Katastrophe vorbereitet gewesen.

«Vielleicht deshalb haben wir uns am Anfang falsch verhalten», sagte er. Skyguide werde alles unternehmen, damit sich eine solche Katastrophe nie wiederhole. Allen beteiligten Rettern, Helfern und Behörden in Deutschland und Russland zollte Rossier Dank, Respekt und Hochachtung.

Mitverantwortung von Skyguide

Die deutsche Flugunfalluntersuchungsbehörde BFU habe gezeigt, dass Schwachstellen bei Skyguide für das Unglück mitverantwortlich seien: Zehn von 19 Sicherheitsempfehlungen beträfen Skyguide, seien aber mittlerweile zum grössten Teil bereits umgesetzt.

Der BFU-Abschlussbericht umfasst 120 Seiten. Die BFU ist nicht zuständig für die Schuldfrage, ihre Berichte dienen aber der Justiz oft als Gutachten.

Im Fall von Überlingen müssen die Gerichte unter anderem über Entschädigungs-Forderungen entscheiden.

Skyguide einigte sich bisher mit 13 Familien der Opfer auf Genugtuungen. Bezahlt werden diese aus einem 50-Millionen-Dollar-Entschädigungsfonds, in den Deutschland und die Schweiz je 10 Mio. Dollar einschossen, der Rest kam von Skyguide. Über die Höhe der Genugtuungs-Summen ist nichts bekannt.

Skyguide reagierte zu spät

Bei dem Unglück am 1. Juli 2002 war eine Tupolew-Passagiermaschine aus der russischen Teilrepublik Baschkirien in elf Kilometern Höhe mit einer Fracht-Boeing des Kurierdienstes DHL kollidiert.

Der BFU-Abschlussbericht bekräftigt frühere Angaben, wonach die Flugsicherung Skyguide die drohende Gefahr nicht rechtzeitig bemerkt hatte. Die Anweisung zum Sinkflug an die Tupolew sei deshalb zu spät erfolgt.

Die Tupolew-Crew sei der Anweisung zum Sinkflug gefolgt, heisst es in dem Bericht. Sie habe die Anweisung auch dann weiter befolgt, als das bordeigene Warnsystem TCAS sie zum Steigflug aufgefordert habe.

Ebenfalls kritisiert wird im BFU-Bericht, dass die Schweizer Flugsicherung seit Jahren geduldet habe, dass zu verkehrsarmen Zeiten in der Nacht nur ein Lotse arbeitete, während der ebenfalls zur Schicht gehörende zweite Lotse Pause machte.

Systembedingte Ursachen

Der Bericht nennt auch systembedingte Ursachen des Unfalls. So sei die Integration des bordeigenen Warnsystems unzureichend gewesen.

Das von der Internationalen Zivilluftfahrtorganisation (ICAO) veröffentlichte Regelwerk und weitere Anweisungen zum Warnsystem seien «nicht einheitlich, lückenhaft und teilweise in sich widersprüchlich» gewesen.

swissinfo und Agenturen

Beim Unglück vom 1. Juli 2002 war eine Boeing-Frachtmaschine über Überlingen am Bodensee mit einem russischen Tupolew-Passagierflugzeug kollidiert.

Unter den 69 Opfern in der Tupolew-154 waren 45 Kinder und Jugendliche. Dazu starben in der Boeing-757 beide Piloten.

Die von Süden kommende Boeing flog auf rund 11’000 Metern Höhe in die von Osten kommende Tupolew.

Dies führt die BFU auf eine Verkettung mehrerer Faktoren zurück.

So bemerkte Skyguide spät, dass sich die Flugzeuge auf gleicher
Höhe einander näherten.

In jener Nacht war das Skyguide-System umgestellt, der Radar arbeitete eingeschränkt.

Der Dienst habende Fluglotse, der vergangenen Februar an seinem Wohnort erstochen worden ist, war allein.

Ein zweiter Fluglotse hatte sich nach jahrelanger Praxis zur Ruhe begeben.

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