Estland auf dem Weg zur Reform der Kinderheime
Estland baut mit Hilfe der Schweiz neue Kinderheime. Diese sollen Kindern aus Problemfamilien und behinderten Kindern ein Leben ermöglichen, das dem Aufwachsen in einer Familie möglichst nahe kommt.
Es ist Juni, dennoch ist es auch drinnen kalt und es regnet in Strömen. Mittagspause in einem neu gebauten Haus für schwer behinderte Kinder in Estland. Zusammen mit ihren Betreuerinnen waschen die Kinder ab, räumen das Geschirr in die Schränke und begrüssen den Besuch freudig.
“In den alten Kinderheimen kommt das Essen aus der Küche, die Kinder setzen sich an den Tisch, dann wird wieder abgeräumt“, erzählt eine Erzieherin. “Wir beteiligen die Kinder an den Hausarbeiten, sie sollen sich wie zu Hause fühlen, Schliesslich leben sie permanent hier.“
“Vielleicht hat die Wirtschaftskrise wenigstens in diesem Fall auch eine positive Seite“, sagt Ülar Vaadumäe, Chef der Abteilung Fremdfinanzierungen beim estnischen Sozialministerium. “Weil die Preise im Baugewerbe gesunken sind, können wir mit dem Geld aus der Schweiz wahrscheinlich 12 statt der ursprünglich vorgesehenen 10 neuen Kinderheime von diesem Typus bauen.“
Neue Heime sind dringend nötig
Mit dem so genannten Erweiterungsbeitrag beteiligt sich die Schweiz an Projekten in den neuen EU-Ländern, die zur Verringerung des sozialen und wirtschaftlichen Rückstandes beitragen. In Estland unterstützt die Schweiz den Bau von neuen Kinderheimen mit insgesamt 5.64 Millionen Franken.
Die Heime bieten Platz für höchstens je 10 Kinder und ihre Pflegeeltern oder Betreuer. “Die Kinder sollen hier unter besseren Lebensbedingungen aufwachsen, als in den grossen Institutionen“, sagt Elmet Puhm, Berater beim estnischen Sozialministerium.
Der Bau neuer Betreuungseinrichtungen für Kinder in Estland ist dringend. Die bestehenden Institutionen sind zumeist in alten, verlotterten Häusern untergebracht. Energietechnisch sind sie veraltet, was bei den kalten Wintern auch ökonomisch ein Problem ist.
Überdurchschnittlich viele Problemfamilien
“Diese Heime sind zum Teil noch Altlasten aus der Zeit der sowjetischen Besetzung. Es sind grosse Institutionen. Damals hat man die Kinder irgendwo versorgt, damit sie keiner mehr sehen konnte“, erzählt Puhm.
In Estland leben zurzeit 1260 Kinder in Heimen. Das ist im Verhältnis zur Bevölkerungszahl von 1.4 Millionen ein im europäischen Vergleich überdurchschnittlich hoher Wert. “Viele Eltern oder auch alleinerziehende Mütter oder Väter haben Alkohol- oder Drogenprobleme, so dass ihnen die Gerichte die Kinder wegnehmen müssen“, sagt Puhm.
Positive Erfahrungen
2008 wurden in der Stadt Viljandi, 150 Kilometer südlich von Tallinn, mit Geldern aus Schweden zwei Prototypen der neuen Familien-Kinderhäuser gebaut. Sie gehören zum Zentrum für Kinder- und Jugendhilfe der Region.
“Für die Kinder, die dort seit zwei Jahren leben, hat sich die Situation sehr positiv verändert. Sie sind selbständiger geworden, haben mehr Privatheit und es gibt weniger Probleme, als mit den grossen Gruppen“, bilanziert Pille Vaiksaar, die Direktorin des Zentrums. “Die Kinder beteiligen sich an den Hausarbeiten. Sie mähen das Gras und wässern ihre Tomaten im Gewächshaus.“
Fehlende Finanzen
In einem der beiden Häuser leben 22 schwer behinderte Kinder, im andern leben 13 ebenfalls schwer behinderte Kinder mit leichteren Behinderungen. “Unser Ziel sind Gruppen von sechs Kindern, aber um dieses Ziel zu erreichen, braucht es Zeit. Wir müssen Schritt für Schritt vorwärts gehen und die Gruppen kleiner machen. Wie schnell das geht, hängt auch von unseren finanziellen Mitteln ab“, so Vaiksaar.
Noch in diesem Jahr ist in Viljandi an zwei verschiedenen Standorten der Bau von vier weiteren solchen Häusern geplant. Hier werden vor allem Kinder wohnen, die gerichtlich von ihren Eltern getrennt worden sind. “Unsere Vorstellung ist, dass die Kinder möglichst wie in einer Familie leben können“, sagt Elmet Puhm. “Die Kinder werden im Idealfall von Pflegeeltern betreut, sonst von Erzieherinnen, die sich schichtweise abwechseln.“
Vision mit Stolpersteinen
Obschon die Pflegeeltern vom Staat bezahlt würden, sei es sehr schwierig, solche zu finden, so Puhm: “Die meisten Familien sind nicht bereit, andere Kinder in die Familie zu integrieren. Kommt dazu, dass viele Problemfamilien vier oder sogar sechs Kinder haben. Da wir leibliche Brüder und Schwestern nicht trennen wollen, ist es praktisch unmöglich Familien zu finden, die in der Lage sind, drei oder gar sechs extrem schwierige Kinder zu betreuen.. Darum werden wir in einer ersten Phase vor allem mit Erzieherinnen und Erziehern arbeiten.“
Dennoch bleibe die Vision, dass in den mit Schweizer Geldern gebauten Häusern dereinst Erziehungspersonen und Kinder gemeinsam zusammen wohnen. “Bisher haben wir 10 professionelle Mütter gefunden und ausbilden lassen und drei Pflegefamilien“ so Puhm.
So normal wie möglich
Es müsse “auch nicht jeder wissen, dass es sich um ein vom Staat gebautes Haus handelt. Deshalb bauen wir die Häuser nicht am gleichen Ort. Fünf Häuser in der gleichen Stadt, das ist das Maximum“.
Das Raumprogramm der Häuser ist vorgegeben. Zudem müssen sie behindertengerecht gebaut sein. Ansonsten werden sich die Bauten von Region zu Region unterscheiden. “Sie sollen dem Baustil des Ortes entsprechen und möglichst normal aussehen, also so, wie die anderen Familienhäuser im Ort auch“, betont Puhm. Deshalb werden die Projekte öffentlich ausgeschrieben und die Architekten können ihre Vorschläge einreichen.
Andreas Keiser, Viljandi, swissinfo.ch
Der Erweiterungsbeitrag beträgt insgesamt 1.257 Milliarden Franken.
Eine Milliarde hat das Stimmvolk im November 2006 mit dem Ja zum Bundesgetz-Ost bewilligt. Sie ist für jene 10 EU-Länder vorgesehen, die 2004 der EU beigetreten sind. Für die 2007 beigetretenen Länder Bulgarien und Rumänien hat das Parlament im Dezember 2009 zusätzliche 257 Millionen Franken bewilligt.
Der Bundesrat hat mit jedem einzelnen Land ein bilaterales Rahmenabkommen abgeschlossen, das die Kriterien festlegt, nach denen Projekte unterstützt werden.
Die ersten Rahmenabkommen wurden im Dezember 2007 unterzeichnet, die Abkommen mit Rumänien und Bulgarien im Juni 2010.
Die EU hat ihre Kohäsionspolitik 1986 eingeführt. Ziel ist eine Umverteilung zwischen reicheren und ärmeren Staaten.
Von 1988 bis 2004 wurden dafür rund 500 Mrd. Euro eingesetzt.
Mit der EU-Osterweiterung 2004 kamen 10 neue, meist mittelosteuropäische Staaten dazu. Seither fliessen die meisten Kohäsionsgelder der EU in die neuen EU-Länder, also seit 2007 auch nach Rumänien.
Die Schweiz geht seit dem positiven Volksentscheid vom November 2006 eigenständig Verpflichtungen in Form von konkreten Projekten ein .
Eigenständig heisst, dass der Schweizer Erweiterungsbeitrag nicht in den EU-Kohäsionsfonds fliesst, sondern die Schweiz selbst entscheidet, welche Projekte unterstützt werden.
Von 1990 bis 2006 zahlte die Schweiz 3,45 Mrd. Franken Ost-Transitionshilfe und von 2007 bis 2011 weitere 0,73 Milliarden an nicht EU-Länder.
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