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Ich-AG: Schweizerisch-slowakisches Geschäftsmodell

Nitra in der Westslowakei: Malerisch, aber auch ein Industrie-Standort. wikipedia

Auslagerungen in die Ostländer dürfen nicht bloss auf billigeren Löhnen beruhen, sagt Felix Hartmann. Im Geschäft für Baumaschinen-Bestandteile hat sich der Schweizer in der Slowakei ein besonderes Geschäftsmodell zurecht legen müssen.

Nitra in der Westslowakei hat knapp 90’000 Einwohner. Die charmante Kleinstadt im Donautiefland ist seit zehn Jahren die Wahlheimat des Rheintaler Unternehmers Felix Hartmann und seiner Frau.

In Nitra haben sich viele Zulieferbetriebe für die Automobil- und Elektronikindustrie sowie für den Stahlbau niedergelassen.

Sein Abenteuer in der Slowakei habe im Jahr 2000 begonnen, sagt Felix Hartmann, als sein damaliger Arbeitgeber, der Ostschweizer Baggerproduzent Menzi Muck, ihn fragte, wo in Mittelosteuropa ein Produktionsstandort aufgebaut werden könnte. «Zur Slowakei bestanden bereits Kontakte, es galt als vergleichsweise nahe gelegenes Billiglohnland.»

Schliesslich habe er in Nitra einen passenden Standort gefunden: «Ab Altenrhein in der Ostschweiz Flug nach Schwechat, Wien, dann Autobahn bis 90 Kilometer hinter Bratislava: Ich konnte also schon um 10 Uhr morgens hier in Nitra ankommen, wenn etwas Dringendes anstand.»

Preise variabler als Qualifikationen

Für die Herstellung von Bagger- und Baumaschinen-Bestandteilen braucht es Stahlbearbeitung. «Für diese Fertigung für Menzi Muck in Nitra arbeiteten in der Folge bis 100 Mitarbeiter», sagt Hartmann. Da die Produkte gut nachgefragt waren, hätten sich aber Probleme ergeben: «Unsere slowakischen Kooperanten haben die Tendenz, in solchen Situationen sofort ihre Angebotspreise anzuheben. So wichen wir in andere Ostländer aus.»

Die gutqualifizierten slowakischen Mitarbeiter «sind hier meistens schon über 50-jährig», urteilt Hartmann. Sie hätten vom  dualen Bildungsangebot profitiert, das bis 1992, bis zum Zusammenbruch des kommunistischen Systems, in der Tschechoslowakei üblich gewesen war – mit Berufslehren ähnlich wie in der Schweiz. Doch heute wolle man in der Slowakei lieber keine Handwerker mehr in der Familie haben, sondern Akademiker.

Östlicher Akademikerdünkel

Heute herrsche in der Slowakei ein in weiten Teilen Mittelosteuropas verbreiteter Akademikerdünkel, beklagt sich der gelernte Maurer und Polymechaniker, der seine berufliche Weiterbildung an der Baukaderschule St. Gallen, im Ausbildungszentrum des Baumeisterverbandes in Sursee sowie an Managerkursen der Universität St. Gallen grösstenteils berufsbegleitend absolviert hat: «Über 60% aller Jugendlichen besuchen in der Slowakei eine Hochschule. Da ist ja klar, dass dann die wirklich Guten nicht gefördert werden.»

Mit dem Resultat, so Hartmann, dass er in Nitra zwar aus vielen theoretisch starken Ingenieuren auswählen könne, diese aber wenig Ahnung vom Alltag der Produktion hätten: «Sie halten sich nicht konsequent genug an die Computerprogramme respektive an die Produktionsvorgaben: 99% sind nicht 100%, die es bei der Fertigung eben braucht.»

Schweizer Unterstützung für duale Berufsausbildung

Im Unterschied zu vielen jungen Slowaken hat Hartmann sein Metier von der Pike auf gelernt: Der Polymechaniker, der mit 25 Jahren noch eine zweite Lehre als Maurer abschloss, begann seine Laufbahn als Polier und Baumeister. Im Jahr 2000 machte er sich im Baugewerbe selbstständig. Dann wurde er von Menzi Muck im Auftragsverhältnis engagiert. Seit 2010 ist er wieder mit seiner eigenen slowakischen Firma für Baumaschinenteile in Nitra tätig.

Wirklichkeitsferne Ingenieure zu Niedriglöhnen arbeiten zu lassen, meint Hartmann, sei keine Lösung für die Produktionsprobleme, die westeuropäische Unternehmen mit Auslagerungen in den Osten zu neutralisieren versuchen.

Er unterstütze deshalb auch ein schweizerisch-slowakisches Projekt, das die Berufsbildung, wie man sie aus der Schweiz kennt, in der Slowakei (wieder-)einführen will. Mit Geldern aus dem Schweizer Erweiterungsbeitrag («Kohäsionsmilliarde») und Fachwissen sollen in der Slowakei wieder Berufsschullehrer ausgebildet werden.

Partnerschaftliches Geschäftsmodell

Blosse Auslagerungen auf Grund der Lohndifferenzen ohne entsprechend adaptierte Geschäftsmodelle, so Hartmann, würden auf die Dauer nicht rentieren: «Inzwischen sind hier in der Slowakei eigentlich nur noch die Löhne auf einem niedrigen Niveau geblieben. Die Miete für die Fabrikhallen, die ich brauche, entspricht bereits jener, die ich in der Schweiz bezahlen müsste.»

Das Gleiche gelte für das Ausgangsmaterial zur Produktion: Stahl für Baumaschinen und –fahrzeuge koste heute überall in Europa etwa gleich viel. Auch Kapital sei in der Slowakei nicht mehr günstig zu haben: Die meisten Kreditinstitute seien Tochtergesellschaften von grossen europäischen Banken. Sie verhielten sich bei ihrer KMU-Kreditpolitik ähnlich zurückhaltend wie die schweizerischen Banken. 

«Meine rund 20 Mitarbeiter, auch die Sekretärin, treten als meine Geschäftspartner auf. Sie erhalten keine Löhne mehr, sondern stellen nur noch Rechnung», erklärt Hartmann sein Geschäftsmodell. Es gebe somit auch keine Arbeitsverträge mehr. «Jeder ist seine Ich-AG, auch ich selbst, denn ich vermiete mich an die Firma.»

In der Schweiz, so vermutet Hartmann, wäre diese extrem abgespeckte Firmen-Formel nur schon aus versicherungstechnischen Gründen nicht möglich.

Er habe in der Slowakei seit Jahren den Status als Daueraufenthalter und zahle als juristische Person Steuern auf dem Gewinn seiner Firma. Als Privatmann brauche er das slowakische Bürgerrecht nicht, obschon er dies inzwischen erhalten könnte.

AHV-Probleme eines Auslandschweizers

«Bleibt das Problem der Altersversicherung eines in der Slowakei lebenden Auslandschweizers», schliesst Hartmann sein Geschäftsmodell ab. Bis 2008 konnte er als Auslandschweizer auch aus der Slowakei eine Minimalsumme direkt in die AHV einzahlen.

Aber das gehe jetzt nicht mehr, da eine neue Regelung zwischen der Schweiz und der EU bestehe. «Nach einer Übergangslösung würde ich mit dieser neuen Regelung eine slowakische Altersrente erhalten. Aber die ist natürlich viel zu klein, falls ich einmal in die Schweiz zurückkehre.»

Da gebe es nur eine Möglichkeit, diese Regelung zu umgehen: Diese bestehe in einer gleichzeitigen Anstellung in einem Unternehmen in der Schweiz, womit sich eine AHV-Beitragspflicht im Inland ergebe.

Für die Jahre 2012 bis 2017 sind rund 4,5 Mio. Franken aus dem Erweiterungsbeitrag («Kohäsionsmilliarde») für ein Berufsbildungs-Projekt in der Slowakei vorgesehen.

Noch als Teil der Tschechoslowakei kannte die Slowakei bis 1992 dieses System der dualen Ausbildung (Schule und Lehre) bereits.

Ab 1992 ging diese dem Schweizer System ähnliche Ausbildungsart in beiden Nachfolgestaaten verloren.

Seither beklagen Arbeitgeber die fehlende Berufspraxis von Hochschulabgängern, während gesellschaftlich eine akademische Ausbildung mehr gilt als ein Handwerk, auch wenn dieses am Arbeitsmarkt besser ankommt.

Als Schweizer Partner wird das Eidg. Hochschulinstitut für Berufsbildung die Partnerschaft übernehmen.

Die Slowakei zählt 5,4 Mio. Einwohner auf einer Fläche von 49’000 Quadratkilometern.

Die Schweiz zählt rund 7,8 Mio. Einwohner auf einer Fläche von 41’300 Quadratkilometern.

2009 betrug die slowakische Kaufkraft im Vergleich zum EU-Durchschnitt 73%.

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