Ist Höhe des Schuldenbergs dramatisch?
Die öffentliche Verschuldung in der Schweiz hat sich in den letzten zehn Jahren verdoppelt. Ist die Zukunft des Landes in Gefahr? Eine Einschätzung zweier Experten.
Die Ökonomen Beat Kappeler und Thomas von Ungern im Gespräch mit swissinfo.
Die Gesundheit der Bundesfinanzen: Auch im ablaufenden Jahr stand dieses Thema ganz oben auf der politischen Agenda der Schweiz.
Der Bund verabschiedete ein neues Sparprogramm, nachdem er bereits 2003 bei den Ausgaben auf die Bremse getreten war. Ziel des zweiten Entlastungsprogramms: Einsparungen von 1,8 Mrd. Franken im Jahre 2007 und 2 Mrd. Franken 2008.
Finanzminister Hans-Rudolf Merz hat einmal mehr die Alarmglocken geläutet: Wenn der Schuldenberg weiter anwachse, würden die Chancen künftiger Generationen durch inakzeptable Belastungen allein durch Schuldzinsen kompromittiert.
Wie schätzen Finanzexperten den Ernst der Lage ein? swissinfo hat dazu Beat Kappeler, Wirtschaftsexperte bei den beiden Schweizer Zeitungen «Le Temps» und «NZZ am Sonntag», und Thomas von Ungern, Professor an der Universität Lausanne, befragt.
swissinfo: Ist die Lage punkto öffentliche Verschuldung wirklich katastrophal?
Beat Kappeler: Sie nähert sich den schicksalshaften 60% an, welche die Europäischen Union (EU) als Obergrenze festgelegt hat. Die Verschuldung beträgt 55% des Brutto-Inlandproduktes (PIB) und wächst schneller als in den letzten Jahren und als in vielen Ländern.
Ich würde die Lage als katastrophal bezeichnen. Wenn die Schuldenbürde die Sozialausgaben übersteigt, ist die Lage wirklich alarmierend! Das einzige Mittel gegen die Verschuldung sind drastische Sparmassnahmen.
Weil sich aber die Politiker in Zeiten wirtschaftlicher Prosperität nicht auf ausgeglichene Budgets einigen können, gibt es nur eines: Der alte Zopf der keynesianischen antizyklischen Massnahmen muss abgeschnitten werden.
Man muss zu ambitionslosen Budgets zurückkehren, welche vom System her ausgeglichen sind. Wie beispielsweise im Kanton St. Gallen, der Defizite seit 1929 von Gesetzes wegen verbietet.
Thomas von Ungern: Das Niveau der öffentlichen Verschuldung in der Schweiz ist einigermassen akzeptabel. Besonders wenn man in Betracht zieht, dass das System der Pensionskassen auf dem Prinzip der Kapitalisierung beruht. Dagegen sind in den meisten umliegenden Ländern keine Reserven angelegt, um die Ruhegehälter der Pensionierten zu bezahlen.
Wenn die Lage in der Schweiz wirklich katastrophal wäre, wäre der Rest Europas klinisch tot. Das heisst aber nicht, dass die Schweiz nicht aufpassen muss, nur weil andere in einer noch schlechteren Lage sind.
swissinfo: Weshalb ist die Schweiz derart verschuldet, und wieso steigt die Verschuldung weiter an?
B.K.: Ganz einfach: Die Politiker haben keine Disziplin. Das Volk spricht sich praktisch nie für Ausgaben aus. Es sind die Politiker, die sie kumulieren. Über die Prioritäten gibt es auf eidgenössischem Niveau keine Verständigung.
T.v.U.: Da sehe ich keine Probleme. Wenn Unternehmen und Haushalte ihre Investitionen über Verschuldung finanzieren, findet man das normal. Wenn aber der Staat dasselbe tut, ist es auf einmal katastrophal.
Man hat die Tendenz, die Investitionsausgaben des Staates nicht korrekt zu verbuchen. Gewisse Ausgaben, die klare Investitionen sind, beispielsweise diejenigen für Bildung, werden generell als laufende Ausgaben verbucht. Deshalb ist es schwierig festzustellen, ob ein Staat zu stark verschuldet ist oder nicht.
Aber seien wir uns im Klaren darüber, dass die Schweiz immer noch eines der reichsten Länder der Welt ist. Die Situation zu derjenigen der USA ist sehr unterschiedlich: Dort sind sowohl öffentlicher wie auch privater Sektor gegenüber dem Ausland verschuldet.
In der Schweiz verschuldet sich der Staat gegenüber den Steuerzahlern. Trotzdem hat er immer noch genug Geld, um anderen Ländern Kredite zu gewähren.
swissinfo: Gibt es eine Rechtfertigung für die Verschuldung des Staates?
B.K.: Im Konjunkturzyklus gesehen ja. Das bedingt aber, dass die Schulden in Zeiten des Wachstums amortisiert werden müssen. Mit anderen Worten: Investitionen auf lange Sicht mit langfristigen Schulden zu finanzieren, kann nicht aufgehen.
Die Jungen werden später auch Investitionen zu tätigen haben. Denn alles entwickelt und ändert sich. Ihnen aber unsere Schulden aufzuzwingen, ist Missbrauch Minderjähriger!
T.v.U.: Natürlich gibt es Gründe für eine Staatsverschuldung. Wenn der Staat Investitionen kürzt, um die Verschuldung zu verringern, leidet die ganze Bevölkerung darunter.
swissinfo: Kann ein Staat Konkurs gehen und gezwungen werden, seine Schulden zu tilgen?
B.K.: Obwohl ein virtueller Konkurs von Staaten nichts Aussergewöhnliches ist, gibt es bisher noch keine internationalen Richtlinien. Vor sieben Jahren war Russland soweit, 1998 Asien, Argentinien ist noch nicht über den Berg. Das sind versteckte Staats-Bankrotte.
Die Geberländer streichen sich einen Teil der Schulden ans Bein, und der Kreislauf beginnt von vorn. Wenn ein Land zuviel Schulden hat, erhält es keine Kredite mehr. Die Banken fordern die Zurückzahlung der Kredite und die Obligationäre hohe Zinsen. Das bedeutet höhere Zölle und die Entlassung von Personal.
Zur Zeit gehen die Angestellten des öffentlichen Dienstes, vor allem in der Westschweiz, aus Protest auf die Strasse. Wenn aber die Schulden nicht abnehmen und die Banken kein Geld mehr herausgeben, könnte es zu Massentlassungen kommen. Die Folgen wären höhere Steuern, gute Steuerzahler würden abwandern, ein Teufelskreis.
T.v.U.: Der Staat kann nicht Konkurs machen. Er kann die Rückzahlung der Schulden verweigern, dann erhält er aber von keiner Seite mehr neues Geld. In der Schweiz wird sich keine öffentliche Institution so verhalten.
Ein Staat kann sich ins Unendliche verschulden. Was mich interessiert, ist nicht unbedingt die Höhe der Verschuldung, sondern die Verteilung der Ausgaben. Was mir an den Defiziten des Bundes grösste Sorgen bereitet, sind Ausgaben, die oft wenig intelligent sind.
swissinfo-Interview: Pierre-François Besson
(Übertragung aus dem Französischen: Renat Künzi)
Von 1990 bis 2002 hat sich die gesamte öffentliche Verschuldung auf 234,8 Mrd. Franken verdoppelt.
Die Schulden des Bundes stiegen von 38,5 Mrd. Franken auf 122, 4 Mrd.
Letztes Jahr betrug der Schuldenberg des Bundes knapp 124 Mrd. Franken.
Gemäss einer Umfrage des Bundes schätzen mehr als die Hälfte der Schweizer Bürger die Schulden des Bundes als zu hoch ein.
Nur 35% bezifferten sie als korrekt.
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