Lula: Von Porto Alegre nach Davos
Der frisch gewählte Präsident Brasiliens, Luiz Inacio da Silva, genannt Lula, hat mit seiner Rede am Weltsozialforum ein Publikum von Zehntausenden von Menschen begeistert.
Unverzüglich nach seinem Auftritt reiste der ehemalige Gewerkschafter nach Davos.
«Es braucht eine neue Weltordnung. Alle Kinder, egal wo sie leben, haben das gleiche Recht zu essen und zu leben», sagte der Präsident vor rund 100’000 Menschen in seiner Rede am Freitagabend am Weltsozialforum (WSF) in Porto Alegre.
Da Silva – den seine Anhänger liebevoll Lula nennen – war im letzten Herbst erdrutschartig mit 53 Mio. Stimmen oder 61%-iger Mehrheit zum neuen Präsidenten des grössten südamerikanischen Landes gewählt worden. Während er im Lande selber auf grosses Vertrauen zählen kann, zeigte sich die internationale Finanzwelt verunsichert: Sie fürchtete, der ehemalige Arbeiterführer könnte durch allzu starke Reformen ihre Investitionen gefährden.
Ein Mann macht Ché Konkurrenz
«Die Menschen setzen enorme Hoffnungen auf ihn. Viele sehen ihn als ihren Retter», meint John Wilkinson von der Universität Santa Catarina in Florianopolis.
Auf den T-Shirts der Menschen in Porto Alegre macht Lulas bärtiges Gesicht bereits dem berühmtesten Helden Lateinamerikas Konkurrenz, dem Argentinier Ernesto Ché Guevara. Aus den Fenstern hängen Fahnen mit dem Stern und dem Kürzel PT seiner Partei, der Arbeiterpartei «Partido dos Trabalhadores».
Die rund 100’000 Menschen, die sich für seine Rede am WSF auf dem weitläufigen Gelände «Por-o-Sol» einfinden, skandieren in Sprechchören «Lula, Lula, Lula». Mehrmals unterbrechen sie seine 40 Minuten dauernde Rede mit Beifall.
«Ich habe nicht Lula gewählt», erzählt der Rechtstudent André Faermann, «aber jetzt ist er mein Präsident und ich unterstütze ihn voll und ganz. Er ist ehrlich!»
Auch die einflussreiche Landlosen-Bewegung Movimento sem Terra (MST) setzt ihre Hoffnung auf den Mann, der aus einfachen Verhältnissen stammt, keinen Universitätsabschluss besitzt und jetzt das höchste Amt innehat. «Er ist unser Verbündeter, wir stehen voll und ganz hinter ihm», sagt Bauernführer Edgar Kolling.
Vom Sozialforum zum Managertreffen
Lulas Ankündigung, sowohl am Weltsozialforum in Porto Alegre wie auch am World Economic Forum (WEF) in Davos aufzutreten, hatte letzte Woche zu Kontroversen in ganz Brasilien geführt.
«Marisa, wo ist mein Ché T-Shirt? Ich muss ans WSF», sagt Lula, der sich in Armani kleidet, zu seiner Ehefrau in einer Karikatur einer nationalen Zeitung. Ist es wirklich möglich, an beiden so gegensätzlichen Orten aufzutreten, ohne jemanden zu belügen?
An der Eröffnungs-Demonstration des WSF fürchteten zum Beispiel die brasilianischen Trotzkisten den Ausverkauf ihres Landes und forderten in Chören: «Lula, geh nicht nach Davos, der Imperialismus will uns versklaven!»
Meine Ideen in Davos
Der Präsident selber beantwortete die Frage, unter leicht bewölktem Himmel bei sommerlicher Temperatur, vor seinen Anhängern. «Ich werde meine Ideen nach Davos tragen. Ihr schickt mich dorthin. Ich habe hier gesprochen, ich werde überall sprechen, wo ihr mich hinschickt.»
Den sozialen Kapitalismus vertreten
Der Befreiungs-Theologe Leonardo Boff unterstützt im Gespräch mit der Schweizer Delegation in Porto Alegre den Präsidenten. Er betrachtet Lulas Sieg – dieser trat bereits zum vierten Mal als Präsidentschaftskandidat an – auch als Sieg der sozialen Bewegung.
Boff unterstützt seinen langjährigen Vertrauten auch in seinem wirtschaftskritischen Kurs: «Hier herrscht ein Kapitalismus, der sozialer gestaltet werden muss. Dazu müssen wir Finanz-Spekulationen verhindern.»
Weit herum wird akzeptiert, dass Lula die Finanzgemeinde beruhigen muss. Diese zeigt sich auch schon etwas entspannter, nachdem er keine überstürzten Reformen anordnete, sondern ausgewiesene Finanzexperten in sein Kabinett berief.
Auch wird akzeptiert, dass Lula die Verantwortlichen vom Währungsfonds, der Weltbank und die privaten Investoren nicht vor den Kopf stossen darf. Lulas Regierung steht vor einem Berg milliardenschwerer Auslandschulden, und das Nachbarland Argentinien wird seit Monaten von einer Wirtschaftskrise gebeutelt.
Schweizer überzeugt und begeistert
«Das ist eine clevere Strategie», sagt SP-Nationalrat Rudolf Strahm. «Innenpolitisch absichern, aussenpolitisch Flankenschutz», analysiert er. «Er zeigt, dass eine andere Welt möglich ist, verdrängt aber nicht die Realität: Seine Reformen lassen sich leichter mit internationalem Kapital umsetzen.»
«Es war eine inhaltsreiche, politische Rede ohne Leerformeln», erklärt SP-Nationalrätin Ursula Wyss. «Wenn Brasilien noch nie an Gott geglaubt hat, dann glaubt es jetzt an Lula.»
Ein Foto des Präsidenten
Als der Präsident seine Rede schliesst, sieht man den Schweiss auf seinem blassblauen Hemd unter seinem Jacket.
Das Fahnenmeer scheint zu leben, der Applaus brandet ans Halbrund der Bühne, Polizisten müssen die Menge zurückhalten, die einen Blick auf ihren Präsidenten werfen, ihn auf die Kleinbildkamera bannen will.
Fernsehreporter richten ihre Krawatten und fixieren die Kameralinsen. Eine Polizistin und ein Polizist führen eine alte Frau aus der Menge, der die Hitze zuviel wurde. Auf der Bühne installiert sich die erste Musikband.
Tausende säumen die Ausfallstrasse, auf der Lulas Autotross die Stadt verlässt. Auf dem Weg zum Flughafen; auf dem Weg nach Davos.
swissinfo-Sonderkorrespondent Philippe Kropf in Porto Alegre
Luis Inacio «Lula» da Silva sprach als erster Regierungspräsident am WSF. Er forderte gleiche Rechte für alle Menschen. Seine Rede begeisterte rund 100’000 Personen.
Lula wird auch am WEF auftreten. Er versprach, seine Ideen nach Davos zu tragen.
Er ist ehemaliger Gewerkschaftsführer und 1980 Gründer der Arbeiterpartei Brasiliens.
Die internationale Finanzwelt hatte seinen deutlichen Sieg über den konservativen Kandidaten argwöhnisch aufgenommen. Seine Reise nach Davos wird auch als beruhigendes Signal an Weltbank, Währungsfonds und private Investoren verstanden.
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