Mindestlöhne berechtigt, aber nicht zukunftsweisend
Die Schweizer Gewerkschaften haben eine neue Kampagne für Mindestlöhne lanciert. Wirtschaftsethiker Peter Ulrich hält die Forderung zwar für berechtigt, befürwortet aber Mindesteinkommen.
Working Poor, Prekarisierung der Verhältnisse auf dem Arbeitsmarkt – zwei Phänomene, die eigentlich dasselbe meinen: Menschen, die arbeiten, aber nicht genug zum Überleben verdienen. Die öffentliche Hand muss die Lücke schliessen, mit Sozialhilfe.
Detailhandel, Gastgewerbe, Bauindustrie, Reinigung und Landwirtschaft sind klassische Tieflohn-Branchen. Rund 150’000 Menschen in der Schweiz gehören laut Bundesamt für Statistik zu den Working Poor.
«Das Phänomen ist in einer im Prinzip reichen Gesellschaft an sich ein Skandal», sagt Peter Ulrich. Der Professor für Wirtschaftsethik an der Universität St. Gallen sieht die Ursache in der Marktwirtschaft, welche die nationale Wirtschaft dem internationalen Standortwettbewerb aussetze.
«Dieser diktiert das wettbewerbsfähige Lohnniveau, was immer öfter zu Löhnen führt, die unterhalb der Existenzkosten liegen», sagt Ulrich.
«Billige» Arbeit kaum mehr etwas wert
Namentlich unqualifizierte, austauschbare Arbeit sei praktisch nichts mehr wert. Was Ulrich beunruhigt: Er sieht diese Tendenz sich immer mehr auch in Mittelschichts-Berufe einschleichen.
Der Wirtschaftsethiker hält deshalb Mindestlöhne als Mittel gegen Lohndumping für absolut berechtigt, wenn ausländische Arbeitnehmer als billige Alternative zu Inländern beschäftigt werden. Mindestlöhnen kommt dann eine Verhinderungsfunktion zu. Deutschland beispielsweise schütze mit seinem «Gesetz über zwingende Arbeitsbedingungen bei grenzüberschreitenden Dienstleistungen» (dem so genannten Arbeitnehmer-Entsendegesetz) Lohnstandards im eigenen Land.
Mindestlohnkampagnen hätten auch in der Schweiz Gutes bewirkt. «Im Detailhandel haben wir gesehen, dass eine konzertierte gewerkschaftliche Kampagne für Löhne nicht unter 3000 Franken sehr erfolgreich war», sagt Ulrich.
Dies, weil der überwiegende Teil der Bevölkerung tiefe Löhne in der Branche als skandalös empfinde, angesichts der im internationalen Vergleich «ungewöhnlich hohen Margen».
Auch Bumerang
Die an sich sehr berechtigten Mindestlohnforderungen können sich aber auch als Bumerang erweisen. «Dann, wenn die Karawane des Investitionskapitals einfach weiter zieht», so Ulrich.
Wie jüngst geschehen bei Nokia. Der finnische Handy-Hersteller schloss sein rentables, hochproduktives Werk im deutschen Bochum und verlegte es nach Rumänien. «Gleichzeitig verkündete Nokia Rekordgewinne», bemerkt Ulrich.
Um dies zu verhindern, müssten Mindestlöhne zur Spielregel des internationalen Standortwettbewerbs werden. Weil die Realität aber anders aussieht, hält Ulrich den Mindestlohn-Ansatz nicht für den Weg, der aus den Verstrickungen des internationalen Standortwettbewerbs samt globalem Lohngefälle herausführt. «Die Lösung für die Zukunft wird vielmehr ein Mindesteinkommen sein. Das ist kein wirtschaftspolitischer, sondern ein gesellschaftspolitischer Ansatz, der im Gesellschaftsvertrag ansetzt», erklärt er.
Demnach hätten alle Bürger, die beispielsweise fünf oder zehn Jahre im Land leben, einen gewährleisteten Anspruch auf ein Mindesteinkommen. Die Höhe des Grundeinkommens könnte demokratisch festgelegt werden. Wer genug verdient, zahlt das Mindesteinkommen über die Steuererklärung zurück.
Bürgerlicher Ansatz
Vorteil dieses garantierten Grundeinkommens laut Ulrich: Es ist eine administrativ schlanke Lösung, bei der jede Stigmatisierung durch Abhängigkeit von Sozialhilfe wegfällt.
Und alle gewinnen an realer Freiheit. «Das wäre ein extrem bürgerlicher Ansatz, aber die bürgerlichen Parteien denken heute nicht mehr bürgergesellschaftlich, sondern autoritär», konstatiert er.
Ulrich ist klar, dass ein solches Grundeinkommen nicht auf einen Stichtag hin eingeführt werden kann. Es müsste vielmehr schrittweise über einen Zeitraum von beispielsweise 30 Jahren aufgebaut werden.
Dabei würden die bisherigen Zahlungen für die Sozialversicherungen überflüssig, was bereits rund einen Drittel der Kosten ausgleichen würde. Als Hauptfinanzierungsquelle sieht der Wirtschaftsethiker indes die Steigerung der Produktivität in der Wirtschaft.
Doch das ist höchstens Zukunftsmusik. Ulrich vermutet, dass die Akzeptanz in «bürgerlichen» Kreisen für ein Grundeinkommen erst wachse, wenn der Sozialstaat infolge einer immer extremer sich öffnenden sozialen Schere für breite Schichten wirklich unbezahlbar würde.
Für den St. Galler Professor ist deshalb klar, dass ein garantiertes Grundeinkommen im Moment eher noch eine «konkrete Utopie» als ein pragmatischer Vorschlag ist. «Dennoch: In Deutschland etwa wird diese Debatte inzwischen erstaunlich intensiv geführt und hat die Realpolitik schon fast erreicht», sagt Ulrich.
swissinfo, Renat Künzi
In der Schweiz soll niemand weniger als 3500 Franken im Monat oder 20 Franken pro Stunde verdienen. Das fordert der Schweizerische Gewerkschaftsbund (SGB) in seiner neuen Mindestlohn-Kampagne.
Angestellte mit abgeschlossener Ausbildung hätten zudem Anspruch auf einen Lohn von 4500 Franken. Diese Forderungen gelten für alle Branchen.
Die neuen Mindestlohnforderungen des SGB berufen sich auf ein Existenzminimum für einen Einpersonenhaushalt von 3570 Franken.
Rund 200’000 Personen arbeiten heute für Löhne, die unter der offiziellen Armutsgrenze liegen.
11% der Arbeitenden verdienen weniger als 3500 Franken Lohn (Quelle: SGB).
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