Mit der WM das Stigma der Apartheid tilgen
Das ziemlich unterentwickelte Verkehrsnetz Südafrikas ist ein Erbe der Apartheidpolitik, welche die Schwarzen von den Zentren fernhalten wollte. Anlässlich der Fussball-WM hat die Regierung viel in die Entlastung der Strassen investiert.
Die Provinz Gauteng erstreckt sich über 17’000 km2 im Nordwesten von Südafrika. Diese Fläche entspricht weniger als 2% des Gesamtterritoriums des Landes. Trotzdem leben dort mehr als 10 Mio. Menschen. Auf diesem in rund 1500 Meter Höhe gelegenen Plateau wird die Hälfte des südafrikanischen Bruttoinlandprodukts generiert. Gauteng wird auch als das wirtschaftliche Herz des ganzen Kontinents bezeichnet.
Als Folge der spektakulären wirtschaftlichen Entwicklung der letzten Jahre leidet die Region an einer Krankheit, die alle Städte betrifft, die sehr schnell gewachsen sind: Verkehrschaos. Mehr als 180’000 Fahrzeuge passieren täglich die 50 km lange Autobahn zwischen der politischen Hauptstadt Pretoria und Johannesburg, dem wirtschaftlichen Gegenstück.
In den Stosszeiten braucht man oft drei Stunden oder mehr für diese paar Kilometer. Deshalb sind die Staus auch Thema der alltäglichen Konversation. «Das verdirbt uns das Leben», schimpft Mzolisi, der jeden Tag fast vier Stunden am Steuer seines beigen Toyotas verbringt. «Leider haben wir keine andere Möglichkeit, als diese Malaise mit Fassung zu tragen.»
Robert, ein Deutscher, der seit 20 Jahren in Südafrika lebt und in der Entwicklungshilfe tätig ist, pflichtet bei: «Ich lebe auf einer Farm in der Nähe von Pretoria. Jeden Morgen fahre ich um 5 Uhr von zu Hause weg, um rechtzeitig zu meinem Büro in Johannesburg zu gelangen. Abends bin ich oft erst nach 19 Uhr zurück.»
Der verlassene Zug
Die Gründe für die täglichen Staus, die sich nicht nur negativ auf die Lebensqualität auswirken, sondern auch beträchtliche wirtschaftliche Kosten verursachen, liegen auch in der Vergangenheit.
«Das leidende Verkehrsnetz ist ein Erbe der Apartheid», sagt Rehana Moosajee, für Verkehrsfragen zuständige Johannesburger Stadträtin. «Unsere Städte sind sehr grossflächig angelegt. Damals hat das Apartheid-Regime Autobahnen für die Weissen gebaut und nur zu einem minimalen Teil den öffentlichen Verkehr für die Schwarzen gefördert.»
Zwischen Pretoria und Johannesburg gibt es eine Bahnlinie. Aber diese liessen die Weissen gegen Ende der Apartheid eingehen – aus Sicherheitsgründen. Das private Auto für die wohlhabende überwiegend weisse Mittelschicht, das Taxi für die Mehrheit der schwarzen Bevölkerung, das sind die in Südafrika heute üblichen Verkehrsmittel.
Nach den ersten freien Wahlen von 1994, als der African National Congress (ANC) die Mehrheit erlangte, gab es unzählige Herausforderungen, eine «Regenbogen-Nation» zu bilden, wie sie sich Erzbischof Desmond Tutu erträumt hatte.
Das Transportwesen war davon nicht die geringste. Der Verlust der staatlichen Kontrolle über die öffentlichen Verkehrsmittel hat die Sammeltaxi-Verbände gestärkt, die sich oft blutige Kämpfe um die besten Standplätze in der Metropole Johannesburg geliefert hatten.
Hochgeschwindigkeitszug
Bald nach der Jahrtausendwende startete die südafrikanische Regierung ein ehrgeiziges Hochgeschwindigkeitszugs-Projekt – bekannt als Gautrain. Damit soll eine Reisezeit von 40 Minuten zwischen Pretoria und Johannesburg erzielt werden. Die kolossalen Arbeiten begannen 2006. Die Nomination Südafrikas als Gastland der Fussball-WM im Jahr 2004 hat die Regierung gezwungen, sich zu beeilen.
Innerhalb eines Jahrzehnts wurden rund 6,5 Mrd, Franken im Verkehrsbereich investiert. Davon hat der Gautrain fast 4 Mrd. Franken, das Dreifache der ursprünglich veranschlagten Kosten, verschlungen.
«Die Anforderungen an die Ingenieure sind riesig», rechtfertigt sich Rehana Moosajee. «Es ist das ambitiöseste, je auf dem afrikanischen Kontinent realisierte Transportprojekt. Die südafrikanischen Ingenieure haben von einem immensen Kompetenztransfer profitiert. Die Beiträge an Gautrain sollten als eine Investition in Südafrikas Zukunft gesehen werden.»
Das Projekt Gautrain ist nicht direkt mit der Organisation um die Fussballweltmeisterschaft verknüpft. Für die Regierung ist es aber eine Prestigefrage, dass die Arbeiten an der Linie zwischen dem Tambo International Airport und dem Vorort Sandton, im Norden von Johannesburg, vor dem 11. Juli abgeschlossen sein werden. «Aber wir glauben nicht mehr so ganz daran», sagt Rehana Moosajee.
Rückgrat
Das Mega-Projekt unter der Federführung des Bombela-Konsortiums soll letztlich ermöglichen, dass täglich 130’000 Benutzer täglich zwischen Pretoria und Johannesburg pendeln können. Vor allem aber soll es auch ein Rückgrat für das öffentliche Verkehrsnetz sein, das sich ab dem Monat Juni beweisen muss.
Das Transportwesen ist eine der schwierigen Herausforderungen für die Organisatoren der ersten Fussball-WM auf afrikanischem Boden. Letztes Jahr, nach dem Confederations Cup, einer Art Generalprobe, hatte FIFA-Generalsekretär Jerome Valcke erklärt, das Verkehrssystem stehe ganz oben auf der Liste, das vor dem Beginn der WM erledigt sein müsse.
«Wir tun alles in unserer Macht stehende, um sicher zu stellen, dass die Besucher während der WM die besten Erfahrung mit unseren Transportsystemen machen werden», sagt Rehana Moosajee.
Dank einem brandneuen Stadtbussystem (BRT) und einem «Park + Ride»-System will man die richtigen Vorkehrungen für die ausländischen Besucher getroffen haben.
Heftiger Widerstand
Die Einführung von BRT, einem Verfahren aus Europa mit separaten Busspuren und kontrollierten Stationen, gestaltete sich nicht ohne Schwierigkeiten. Aus Angst vor dieser Konkurrenz haben Taxifahrer ihre Wut heftig zum Ausdruck gebracht. So hatten kurz vor den Wahlen im April 2009 Demonstrationen und Angriffe von Bewaffneten die Behörden gezwungen, die Eröffnung um ein Jahr zu verschieben.
Mitte März wurde die Gründung des Netzwerks in Soweto, dem grössten Township in der Stadt, von Gewalt begleitet. Weitere Proteste werden in Durban, Kapstadt, Port Elizabeth und Bloemfontein während der Eröffnung der BRT erwartet. Und Taxifahrer haben bereits gewarnt, sie könnten ihre Unzufriedenheit während der WM zum Ausdruck bringen.
Rehana Moosajee, die immer von ihren beiden Leibwächtern begleitet wird, ist sich bewusst, dass die Bedrohung real ist. Aber sie gibt sich ruhig und meint: «Wir haben die Taxifahrer in das gesamte Verkehrskonzept für die WM integriert. Es wird immer Platz für sie da sein. Ich glaube daran, dass die Taxifahrer patriotisch sind und alles tun werden, um dieses für Südafrika so wichtige Ereignis nicht zu untergraben.»
Samuel Jaberg, Johannesburg
Der erste Hochgeschwindigkeits-Zug in Afrika, der Gautrain – von Gauteng und Bahn – soll einen Teil der Staus zwischen Johannesburg und Pretoria absorbieren helfen. Die wichtigste Linie verbindet den Flughafen mit dem Stadtteil Sandton nördlich von Johannesburg; sie sollte vor der WM eingeweiht werden.
Der Gautrain erreicht eine Durchschnitts-Geschwindigkeit von 160 km/h. In 42 Minuten soll man damit von Pretoria nach Johannesburg fahren. Die Reisekosten betragen umgerechnet knapp 10 Rappen pro Kilometer.
Der Bau der 77 km schnellen Verbindung, davon 15 im Untergrund, und der zehn Stationen erforderte Investitionen von fast 4 Mrd. Franken. 93’000 Arbeitsplätze wurden geschaffen, 6,7 Mio. Kubikmeter Erde bewegt, 11 Viadukte gebaut.
Mehr als 1200 Personen werden beschäftigt, um die Sicherheit der Passagiere zu gewährleisten, eine grosse Herausforderung in Südafrika und vor allem in Johannesburg, wo täglich rund 17 Morde gemeldet werden
Der Bau des Gautrain steht unter der Verantwortung des Bombela-Konsortiums, dem das kanadische Unternehmen Bombardier angehört sowie andere internationale Firmen
Quelle: AFP
Südafrika hat ein parlamentarisches System und drei Hauptstädte: Kapstadt (Legislative), Pretoria (Verwaltung) und Bloemfontein (Judikative).
Der Präsident und Regierungschef Jacob Zuma wurde vom Parlament am 22. April 2009 für fünf Jahre gewählt. Er ist Mitglied des African National Congress (ANC), der Partei, die gegen das Apartheid-Regime gekämpft und 1994 bei den ersten freien Wahlen die Mehrheit errungen hatte.
Südafrika hat 49 Millionen Einwohner (79% Schwarze, 9,5% Weisse, 9% Mischlinge und Inder 2,5%). Die südafrikanische Verfassung anerkennt 11 offizielle Sprachen.
Südafrika ist der Wirtschaftsmotor des afrikanischen Kontinents mit einem Bruttoinlandprodukt (BIP) von 300 Mrd. Dollar (2008). Der Reichtum in Südafrika ist jedoch nicht gleichmässig verteilt: 43% der Bevölkerung leben von weniger als zwei Dollar pro Tag.
Vom 11. Juni – 11. Juli findet in Südafrika die erste Fussball-WM auf afrikanischem Boden statt. Rund 4,8 Mrd. Franken wurde in die Renovierung und den Bau von Stadien und die Verbesserung der Infrastruktur (Flughäfen, Strassen, Verkehr) investiert.
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