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Nahrungsmittel gehen zum Geld, nicht zum Hunger

Wildheuen in den Schwyzer Bergen: Die industrielle Landwirtschaft würde an diesem Ort nicht produzieren. Keystone

An der WTO in Genf streiten Minister über einen gemeinsamen Weg zum Abbau von Handelshemmnissen zwischen Industrie-, Schwellen- und Entwicklungsländern. Ex-Nationalrat und Auslandschweizer Ruedi Baumann nimmt Stellung.

Bereits seit sieben Jahren ringen die 153 Mitgliedsstaaten der Welthandelsorganisation (WTO) in der so genannten Doha-Runde um die Liberalisierung des Welthandels. Schon mehrfach hiess es, die Gespräche seien gescheitert.

Der grüne Ex-Nationalrat Ruedi Baumann, der seit 2003 mit seiner Frau Stephanie in Frankreich einen Bauernbetrieb bewirtschaftet, schaltet sich immer wieder in die öffentliche politische Diskussion ein.

swissinfo: Welche Folgen hätte ein Scheitern der Genfer WTO-Gespräche für die Schweizer Landwirtschaft?

Ruedi Baumann: Wenn sie scheiterten, würde der schweizerischen Landwirtschaft nicht viel passieren. Aber die Industrie und das Dienstleistungsgewerbe haben ein grosses Interesse, dass die Verhandlungen nicht scheitern.

swissinfo: Der Schweizer Bauernverband befürchtet, dass bei einer Einigung in den WTO-Verhandlungen praktisch die Hälfte der Schweizer Bauern auf der Strecke bliebe. Teilen Sie diese Ansicht?

R. B.: Gerade der Bauernverband und die «Grossbauern» in der Schweiz machen nichts anderes, als diesen Strukturwandel in der Schweiz zu fördern. Das heisst: Druck ausüben auf Klein- und Mittelbetriebe, damit sie mit ihren grösseren Betrieben weiter wachsen können.

Zudem ist es eine Frage des politischen Willens in diesem Land, ob man Grossbetriebe bis hin zur Landwirtschaftsindustrie fördern will oder man akzeptiert, dass die Schweiz ein Klein- und Nebenerwerbs-Bauernland ist. Und das wäre meiner Meinung nach viel klüger.

Die Schweiz sollte, wie das Österreich sehr erfolgreich in der EU macht, die kleinen und mittleren Betriebe voll von der staatlichen Förderung profitieren lassen.

So hat Österreich zwei Drittel Nebenerwerbsbetriebe, die Schweiz weist nur einen Drittel auf. Genau das wäre ein erfolgreicher Ansatz für eine schweizerische Landwirtschaftspolitik, die das Überleben kleiner und mittlerer Familienbetriebe sichern würde. Aber da müsste der Schweizerische Bauernverband selbst mal über die Bücher.

swissinfo: Bundesrätin Doris Leuthard ist der Ansicht, dass sich die Schweizer Landwirtschafts-Produkte wegen ihrer Qualität durchsetzen würden, auch wenn die Genfer Verhandlungen eine Landwirtschaftszollsenkung um 54 bis 60% zur Folge hätten. Sehen Sie das auch so?

R. B.: Als Bauer in Frankreich muss ich sagen, dass auch das übrige Europa Qualität produziert. Ein Beispiel: Hier im Südwesten Frankreichs gibt es praktisch keine Ställe, wir haben nur Freilandhaltung. So rosig, wie das manchmal in der Schweiz bezüglich Qualität dargestellt wird, ist es nicht. Auch der Pestizid- und Düngereinsatz in der Schweiz ist immer noch jenseits von Gut und Böse. Zudem stagniert auch der biologische Landbau.

Die staatlichen Förderungsmassnahmen sollten in der Schweiz so ausgerichtet werden, dass das Land einen Spitzenplatz im biologischen Landbau einnimmt, wie das früher der Fall war. Leider ist es zurückgefallen. Österreich ist da auch ein Beispiel dafür, dass man die Anzahl der Biobetriebe erhöhen kann.

swissinfo: Öffnen wir den Blick: Was hätte es denn für globale Auswirkungen, wenn die Agrarmärkte des Westens nun plötzlich geöffnet würden?

Die Liberalisierung in der Landwirtschaft ist generell sehr fragwürdig. Eigentlich sollte auf der Welt der Grundsatz herrschen, dass jedes Land, jede Region das Anrecht haben sollte, sich selbst zu ernähren. Das gilt sowohl für Entwicklungs- als auch für Industrieländer.

Diese Ernährungssouveränität ist für mich viel wichtiger als der freie Markt, der auch viele bäuerliche Strukturen zerstören würde.

Die grösste Gefahr einer Landwirtschafts-Liberalisierung lauert meines Erachtens in den industriellen Grossbetrieben, darin, wie in den USA, in Brasilien oder Argentinien zum Teil Nahrungsmittel produziert werden.

Es handelt sich dabei um multinationale Monopolisten in Gentech, in Saatgut, in Dünger, in Treibstoffen, die letztlich nicht nur die Schweiz, sondern die ganze Menschheit in eine grosse Abhängigkeit brächten.

swissinfo: Eine globale Öffnung wäre also nicht im Sinn der Entwicklungsländer?

R. B.: Den Entwicklungsländern muss zugestanden werden, dass sie ihre fragilen Landwirtschaftsstrukturen schützen können. Absoluter Freihandel würde bedeuten, dass kanadische, brasilianische oder argentinische Nahrungsmittel die Entwicklungsländer überschwemmten. Damit wäre die lokale Produktion nicht mehr möglich.

Man könnte es auch so sagen: Die Nahrungsmittel gehen nicht zum Hunger, sie gehen immer zum Geld.

swissinfo-Interview: Etienne Strebel

Die 153 Mitglieder der WTO verhandeln über eine grössere Liberalisierung des Welthandels im Rahmen der 2001 lancierten Runde in Doha, der Hauptstadt von Katar.

Die Länder sind sich nicht einig über das genaue Niveau der Zollsenkungen, über die internen Reduktionen der Agrarsubventionen und über den Grad der Flexibilität für die Entwicklungsländer bei der Öffnung ihrer Märkte.

Im Juli 2006 wurden die Verhandlungen abgebrochen.

Im Agrardossier ist die Schweiz zurückhaltend. Sie setzt sich für eine Liberalisierung der Dienstleistungen und eine Senkung der Zolltarife auf Industrieprodukten ein.

Doch die Lösungslinien zeichnen sich ab: Die USA müssen ihre Agrarsubventionen kürzen, die EU muss ihren geschützten Markt öffnen, die Entwicklungsländer ihre Industrie-Zolltarife senken.

Dazu kämen Massnahmen, um die Dienstleistungs-Branchen zu liberalisieren.

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