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Quantensprung durch den Lötschberg

Nach elf Minuten schiesst der Neat-Express aus dem Lötschberg hinaus in die Walliser Sonne. Ex-press

Die Schweiz ist immer mehr ein Land der S-Bahnen: Dank des neuen Lötschberg-Basistunnels wird das Wallis zur Agglomeration von Bern, Zürich und Basel.

Passagiere aus der und in die «Üsserschwiiz» gewinnen ab dem 9. Dezember viel Zeit. swissinfo auf Extrafahrt im Vorfeld des Fahrplanwechsels.

«Der Tunnel». Eines der berühmtesten Stücke der Eisenbahn-Literatur. Darin lässt der Schweizer Autor und Dramatiker Friedrich Dürrenmatt einen jungen Mann von Bern nach Zürich fahren, wo dieser studiert.

In einem Tunnel macht den Studenten etwas stutzig: Die Fahrt durch das Dunkel, sonst nach Sekunden vorbei, dauert länger. Und immer länger. Aus der schleichenden Unruhe des jungen Mannes wird Angst. Er macht sich auf die Suche nach dem Zugführer.

Reales Leben, neues Bahn-Zeitalter: Zugführer Helmut Kiecher beginnt seine Arbeit im letzten der sechs Wagen des Neat-Express›. Der Extrazug des 36-Jährigen aus Naters im Oberwallis ist mit geschätzten 70 Passagieren nur zu knapp einem Viertel besetzt.

Elf Minuten

08.49 Uhr: Sanft setzt Mathias Kalbermatten seine Lokomotive in Bewegung. Sie leuchtet blau und trägt das rot-weisse Signet der SRG SSR idée suisse, zu der auch swissinfo gehört.

Ebenso schnell, wie der 42-jährige Lötschentaler aus Blatten seinen Zug beschleunigt, fährt er bei Frutigen in den Vortunnel ein. Noch einmal blitzt kurz das Tageslicht auf. Danach bleibt es hinter den Scheiben schwarz.

Doch wir stürzen nicht in einen Höllenschlund, wie die Reisenden bei Dürrenmatt, sondern schiessen nach kurzen elf Minuten schon wieder aus dem Bauch des Lötschbergs in die gleissende Sonne des Oberwallis hinaus. Mit knapp 200 Kilometern pro Stunde.

«Für die Reisenden bedeutet die Fahrt ein riesiger Zeitgewinn», sagt Zugführer Kiecher. In Zahlen: 33 statt wie bisher 56 Minuten dauert die 74 Kilometer lange Fahrt von Spiez nach Brig oder umgekehrt.

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Neat

Dieser Inhalt wurde am veröffentlicht Die Neue Eisenbahn-Alpentransversale (Neat) umfasst mehrere Grossprojekte zur Verbesserung des Eisenbahn-Transitverkehrs auf der Nord-Süd-Achse. Die beiden Hauptprojekte sind der Gotthard-Basistunnel (57 km) und der Lötschberg (35 km). Ziel: Verlagerung des Schwerverkehrs von der Strasse auf die Schiene. Die Projekte sind höchst umstritten, da das Gesamtbudget bereits mehrmals erhöht werden musste und die Fertigstellung in immer…

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Lebensqualität

Kiechers Kunden auf der Extrafahrt Richtung Süden sind nicht sehr zahlreich, dafür begeistert. Wie der Biologe Wolfgang Bischof: «Ich bin einer der grössten Profiteure des Fahrplanwechsels.» Er fährt dreimal wöchentlich von Bern nach Visp, wo er Umweltprojekte betreut.

Knapp zwei Stunden spart er pro Arbeitstag ein. «Zusätzliche Lebensqualität, die ich anderswo einsetzen kann», sagt Bischof. Und tippt weiter auf der Tastatur seines Laptops.

Kiechers Kunden sind auch perplex. «Ich habe die Fahrt fast nicht erlebt, weil es so schnell ging!», sagt der Fotograf und Bahnfan Daniel Winkler am Ziel in Brig.

Als Jugendlicher, der in Spiez aufwuchs, sei er oft mit der Familie ins Wallis wandern gegangen. Das sei damals immer eine lange Reise gewesen, erinnert sich Winkler. «Jetzt sind wir schon nach einer halben Stunde in einem anderen Teil der Schweiz. Das ist wie S-Bahn-Fahren in der Agglomeration.»

Schub für Visp

Der Neat-Express macht auch Marcel Pollinger zum Gewinner. Der Versicherungs-Fachmann pendelt von Luzern nach Visp. Dort betreut er die Zurich-Filiale. «Vorher war das fast eine Tagesreise», sagt Pollinger, selber gebürtiger Walliser aus St. Niklaus. «Jetzt ist man mit dem Zug schneller als mit dem Auto. Das verleiht dem öffentlichen Verkehr Auftrieb.»

Davon gehen auch die SBB aus. Sprecher Jean-Louis Scherz rechnet mit einem deutlichen Anstieg der Passagierzahlen nach dem Fahrplanwechsel. «Wie 2004, als die Einführung der Bahn 2000 zu einem Quantensprung führte.»

Neben den Reisenden, den SBB und dem Wallis gibt es noch einen weiteren Gewinner: Visp. Das Industriestädtchen mit den Lonza-Werken wird zur neuen Verkehrs-Drehscheibe. Passierten dort jährlich bisher 300’000 Reisende, werden es neu drei Millionen sein.

Gelungene Solo-Première

Die Alpen-S-Bahn produziert nicht nur reine Gewinner. Zwar ist Zugführer Helmut Kiecher alles andere als ein Verlierer. Doch er muss den Takt halten, und dafür muss er Gas geben. Die Billette und Abonnemente seiner Fahrgäste muss Kiecher jetzt in gut der Hälfte der bisherigen Zeit kontrollieren.

09.22 Uhr: Entspannt wie er gefahren ist, stoppt Kalbermatten seine RE 460 in Brig. «Keine Probleme, alles lief nach Plan», freut er sich über seine gelungene erste Solofahrt durch die neue Röhre.

In die Begeisterung des Bahnfans Daniel Winkler mischt sich zum Schluss ein Schuss Wehmut. «Den Blick auf die schöne Berglandschaft gibt es nicht mehr», sagt der junge Mann mit dem Fotografen-Auge.

Winkler hofft, dass die BLS die alte Bergstrecke weiter befahren. «Damit Reisende mit mehr Zeit die schönen Bergpanoramen des Berner Oberlandes und des Wallis geniessen können.»

swissinfo, Renat Künzi, Brig

Die Neat-Lötschberglinie bringt grosse Zeitgewinne. Einige Beispiele:
Bern-Brig: Fahrzeit neu 1.04 (bisher 1.27)
Bern-Zermatt: 2.07 (3.03)
Visp-Bern: 0.55 (1.47)
Zürich-Zermatt: 3.12 (4.10)
Basel-Saas Fee: 2.58 (3.47)
Freiburg-Leukerbad: 2.19 (2.50)

Die Neat-Lötschberglinie mit dem neuen Basistunnel als Herzstück wird dem Kanton Wallis einen grossen Tourismus-Schub verleihen.

Das Wallis werde zum neuen Naherholungsgebiet der Zürcher, sagt der Walliser Tourismus-Direktor Urs Zenhäusern im Vorfeld des Fahrplanwechsels.

Wissenschafter der Universität Sankt Gallen gehen von 10 bis 20% mehr Gästen aus.

Das bedeutet zusätzlich: 400’000 Übernachtungen, 60 Mio. Franken Umsatz und 1000 Arbeitsplätze.

Umgekehrt dürfte das Berner Oberland weniger profitieren.

Der im Sommer offiziell eröffnete Lötschberg-Basistunnel ist mit 34,6 Kilometern der drittlängste Eisenbahntunnel der Welt. Er führt von Frutigen im Berner Oberland bis Raron im Rhonetal.

Die Linienführung verläuft rund 400 Meter unterhalb des höchsten Punktes der bisherigen Bergstrecke.

Ab 9. Dezember verkehren die Personen- und Güterzüge regulär durch den Basistunnel.

Der alte, 17 Kilometer lange Tunnel verbindet Kandersteg mit Goppenstein. Die Bergstrecke wird als Regionallinie nach wie vor den Bern-Lötschberg-Bahnen (BLS) betrieben.

swissinfo.ch

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