Raumplanung: mehr als die Summe der Vorschriften
"Die Schweiz – eine einzige Metropole?", fragten Experten vor 20 Jahren. Seither hat sich das Land weiter verstädtert. Dennoch ist Raumplanung in der politischen und wissenschaftlichen Debatte kaum ein Thema.
Die Akademie der Geistes- und Sozialwissenschaften diskutierte an ihrer Herbsttagung die Frage: «Lässt sich Urbanisierung planen?» – Ja, wie das Beispiel Glattalbahn zeigt.
Das Mittelland, eine praktisch zusammengebaute Landschaft. Alpine Ferienorte, die – abgesehen von der Bergkulisse – aussehen wie Vororte. Jede Sekunde wird ein weiterer Quadratmeter Boden bebaut. Zersiedelung und Zerschneidung der Landschaft gehen weiter.
1970, in der ersten Phase der Hochkonjunktur, hat die Politik die Regeln der Raum- und Verkehrsplanung aufgestellt. Jede Gemeinde entscheidet autonom über Bau-, Landwirtschafts-, und Waldzonen, plant und baut Strassen. Die Kantone sind zuständig für die Verbindungsstrassen, der Bund baut die Autobahnen und steht dabei unter ständigem Lobbying der Kantone.
«Ist das die Schweiz, welche sich die Planer vor 30 Jahren vorgestellt haben?» – Die rhetorische Frage beschäftigte an der Tagung die Referenten und das Fachpublikum, also Raumplaner, Architekten, Geographen und Ökonomen.
Der Direktor des Bundesamtes für Raumentwicklung, Pierre-Alain Rumley, plädierte für die Anwendung der bestehenden Vorschriften, eine engere Zusammenarbeit zwischen den Kantonen, bezeichnete Steuerelemente wie Road Pricing als «très à la mode» und «politisch nicht reif», aber dennoch als «interessante Optionen».
Der leere See und der Schmutz
Peter Knoepfel, Professor für Politikanalyse und Umweltpolitik in Lausanne, definierte die Agglomeration als «Ansammlung von natürlichen und anderen Ressourcen» und stellte fest, es brauche neue Regelwerke: «Boden, Wasser und Luft sind endlich.»
Knoepfel zeigte auf, dass auch eine hohe Regel- und Ämterdichte nicht zu einer nachhaltigen Siedlungspolitik führt. So werde Wasser auf zehn verschiedene Arten genutzt, aber die zuständigen Ämter funktionierten völlig autonom. «Das Schifffahrtsamt etwa kommuniziert nicht mit den Ämtern für Feuerwehr oder Abwasser.»
Nachhaltigkeit heisse «Erhalt der Selbstreproduzierungs-Fähigkeit». Regelwerke müssten sich daran orientieren und aufeinander abgestimmt werden, denn «einen leeren See kann man nicht mehr verschmutzen».
Unantastbar: das Eigentumsrecht
Beschränkung der Bauzonen, Handel mit Bauzonen, Kontingentierung von Autonummern und der Nutzungsrechte für Wasser und Luft sind Massnahmen, welche laut Knoepfel zu Nachhaltigkeit beitragen könnten. «Die heutigen Regelungen können diese Steuerleistung nicht erbringen.»
Hinderlich sei auch das seit 1907 geltende und seit Jahrzehnten nicht mehr debattierte oder hinterfragte Eigentumsrecht. Zudem sei mit dem Landkauf auch das Recht auf CO2-Ausstoss inbegriffen. «Jeder Raumplaner weiss, dass das ‹enjeu› Eigentumsrecht und nicht in der Raumplanung liegt.» Denn vielfach verhinderten die Eigentumsverhältnisse eine logische Planung.
Glattal: Eine Stadtbahn als Impulsgeber
Industrie, Gewerbebauten, Wohnanlagen, Autobahnen, Ausfallstrassen, Stau: Der Gürtel um Zürich ist ein Siedlungsbrei. Dörfer wie Dübendorf, Wallisellen, Glattbrugg oder Kloten sind längst zusammengewachsene Agglomerationen. Beidseits der jeweiligen Gemeindegrenzen stehen städtische «Randnutzungen»: Brachen, ehemalige Schlachthöfe, Kehrichtverbrennungsanlagen, Asylzentren.
Die künftige Glattalbahn wird als räumlicher «roter Faden» sechs Gemeinden zwischen Kloten und Dübendorf verbinden und eine «neue Leseart in diese Aussenräume bringen, Grenzen durchstossen und bislang Getrenntes verbinden», freute sich Rainer Klostermann, Architekt und Leiter des Stabs Gestaltung bei der Glattalbahn.
Der lange Weg zum einheitlichen Design
Die Bahn hilft mit, Verkehrsprobleme zu lösen, und ist ein Motor für eine urbane Entwicklung.
«Wohnungen und Büros entstehen an Orten, wo bisher nicht gebaut wurde, weil sie nicht richtig erschlossen waren. Wallisellen ist plötzlich mittendrin, der Sprung über die Autobahn nach Dübendorf bedeutet plötzlich nur noch zwei Haltestellen. Die klassischen Abgrenzungen von Wohnen, Arbeiten und Freizeit werden neu vernetzt», sagte Klostermann.
Die Haltestellen werden ein einheitliches Design aufweisen und so «Öffentlichkeit und Identität schaffen und die Stadtebene erobern». Der planerische Koordinationsbedarf ist nicht zu unterschätzen: «Zuerst wollte jede der sechs Gemeinden noch einen eigenen Veloständer», so Klostermann.
swissinfo, Andreas Keiser, Bern
Von den 42 000 km2 Schweiz werden jährlich 29 km2 neu überbaut.
Das entspricht der Fläche des Brienzer-Sees.
Jeder Einwohner beansprucht heute 410 m2 Siedlungsfläche.
Dieser Wert hat in den letzten Jahren um 20m2 zugenommen.
75% der Bevölkerung leben in Agglomerationen.
Die Schweizerische Akademie der Geistes- und Sozialwissenschaften (SAGW) ist die Dachorganisation von 54 Fach-Gesellschaften aus den Bereichen Literatur, Kommunikations-Wissenschaften, Ethnologie und Theologie.
Sie wurde 1946 gegründet, vertritt die Anliegen der Humanwissenschaften gegenüber Behörden, Entscheidungs-Trägern, Medien und Öffentlichkeit und hat 30’000 Mitglieder.
Das Jahres-Budget beträgt 10 Mio. Franken und wird im Wesentlichen von der Eidgenossenschaft finanziert.
Die SAGW organisiert regelmässig öffentliche Tagungen zu aktuellen Themen und will so den Dialog mit der Politik und der Wirtschaft fördern.
Zu ihren Forschungsprojekten gehört auch das Historische Lexikon der Schweiz.
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