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SBB Cargo: Wachsender Widerstand gegen Stellenabbau

Die Streikenden in Bellinzona sind gut organisiert. swissinfo.ch

Der Protest gegen den Stellenabbau bei SBB Cargo weitet sich aus. Am 19. März ist in Bern eine Demonstration geplant.

Die Betriebswerke in Bellinzona sind zum Symbol des Widerstands geworden. Während die Streikenden immer mehr Rückhalt in der Öffentlichkeit erhalten, droht ihnen die SBB mit Entlassung.

«Es macht mich wütend, wir haben immer unser Bestes gegeben», sagt René Rizzi gegenüber swsissinfo. Die Cargo-Angestellten in Bellinzona hätten nicht nur für den Lohn gearbeitet, sondern für den Erfolg der Eisenbahn. «Wir haben die Betriebsziele immer erreicht», so Rizzi.

René Rizzi arbeitet seit 18 Jahren bei den Cargo-Industriewerken in Bellinzona. Für ihn und seine Kollegen sind die Restrukturierungspläne der SBB ein harter Schlag. Am letzten Freitag hat die SBB angekündigt, beim Gütertransport-Unternehmen Cargo rund 400 Stellen abzubauen. Allein in Bellinzona sind es 126 Arbeitsplätze.

Der Unterhalt der Lokomotiven soll von Bellinzona nach Yverdon verlegt und der Unterhalt der Wagen ausgelagert werden.

Protest und Solidarität

Im Tessin hat der Entscheid der SBB besonders grossen Protest ausgelöst. Und auch die Solidarität ist im Südkanton grösser als anderswo. «Die Solidarität der Bevölkerung gibt uns Kraft. Wir sind nicht allein – nicht nur bei den 400 Angestellten regt sich Widerstand, sondern im ganzen Tessin», sagt Rizzi.

Antonio Greco ist Cargo-Angestellter in Biel, wo 46 Stellen abgebaut werden. Er besuchte am Dienstag mit einigen Kollegen das Betriebswerk in Bellinzona. «Ich bin vom Protest in Bellinzona beeindruckt. In Biel wird nicht gestreikt – aus Angst und wegen dem Druck, der auf uns lastet», sagt Greco gegenüber swissinfo.

Identifikationsprozess

In den Werkshallen wird insbesondere mit Hilfe der Gewerkschaften für die streikenden Angestellten gesorgt. Fast ununterbrochen treffen Nahrungsmittel und Getränke ein, die gespendet wurden.

Es vergeht kein Tag, ohne Solidaritätskundgebungen – ein Novum im Tessin. «Mit dieser Mobilisierung ist es uns gelungen, das soziale Unbehagen im Tessin zu kanalisieren», sagt Unia-Sekretär Matteo Pronzini. «Es gibt Momente in der Geschichte, in denen ein Protest plötzlich einen Identifikationsprozess auslöst, der zu einer wachsenden Welle der Solidarität führt.»

Emotionale Komponente

Der Ökonom Christian Marazzi verweist auf die starke emotionale Komponente, die über die Parteigrenzen hinaus verbindet.

«Dieser Streik trifft die neuralgischen Punkte des Schweizer Systems. Es geht um die föderalistischen Prinzipien, die Rolle des Tessins als Randregion», sagt Marazzi. «Das Tessin nimmt jedoch heute in der Transportpolitik eine zentrale Rolle ein.»

Gemäss Experten wird es bereits nächste Woche zu einem Mangel an Ersatzteilen für Lokomotiven kommen, die nur in Bellinzona beschafft werden können.

SBB drohen mit Lohnstreichung

Die Arbeitsniederlegung sei illegal, heisst es indes in einem Brief der SBB an die leitenden Angestellten des Werkes Bellinzona. Der Streik verletze die Richtlinien des Gesamtarbeitsvertrages. Die Angestellten würden wegen ihrer Arbeitsniederlegung keinen Lohn mehr erhalten.

Zudem schloss die SBB eine vorzeitige Verlagerung der Aktivitäten an einen anderen Standort nicht aus. Die im Brief angedrohten Massnahmen reichen von einer Ermahnung bis zur Kündigung.

Das SBB-Schreiben wurde am Dienstag vom Streikkomitee den Medien zugespielt. Der Brief stelle keine Drohung dar, sagte die SBB am Dienstagabend. Es werde niemand entlassen. Man suche nach einer einvernehmlichen Lösung.

Geplante Grossdemo

Doch die rund 400 Tessiner Angestellten bleiben auch am fünften Streiktag hart. Sie wollen ihre Arbeit so lange niederlegen, bis die SBB ihre Abbaupläne zurücknimmt. Um sich Gehör für ihr Anliegen zu verschaffen, planen sie am 19. März eine grosse Kundgebung in Bern.

Die Stadtregierung von Bellinzona genehmigte am Dienstag einen Unterstützungskredit für die Streikenden in der Höhe von 100’000 Franken. Dazu wurden im Tessin bisher weitere 50’000 Franken gespendet.

In der Romandie sind Verbrüderungsaktionen mit Bauarbeitern geplant, die nächste Woche voraussichtlich ihre Arbeit ebenfalls niederlegen werden.

Auch in Freiburg wird der Widerstand grösser: Die dortigen Angestellten des ebenfalls vom Abbau betroffenen Kunden Service Centers (KSC) wollen am Mittwoch für eine Stunde ihre Arbeit niederlegen. Für Freitag ist zudem eine Kundgebung geplant.

Scharfe Töne von SVP und FDP

SBB-Chef Andreas Meyer informierte am Dienstag die Bundeshausfraktionen über die Abbaupläne bei SBB Cargo. Die SBB bezeichnet die Gespräche in einer Medienmitteilung als «offen und konstruktiv».

Die Schweizerische Volkspartei (SVP) und die Freisinnig-Demokratische Partei (FDP) sehen als Urheber der Missstände die «linke Seilschaft» bzw. den «roten SP-Filz».

SBB Cargo sei von den Bürgerlichen mit Auflagen und ohne finanzielle Ausstattung in den freien Wettbewerb geschickt worden, sagte demgegenüber Nationalrätin Jacqueline Fehr von der Sozialdemokratischen Partei (SP). Die SP will mit einer Motion einen Kredit von 10 Mio. Franken beantragen, um das Werk in Bellinzona zu retten.

Die SVP hingegen beharrt auf ihrer bereits früher gestellten Forderung nach einer parlamentarischen Untersuchungskommission (PUK). Zusammen mit dem Bericht der Taskforce müssten danach verschiedene Lösungsvarianten wie Teil- oder Vollprivatisierung geprüft werden.

Ein Imageschaden für die Schweiz und die SBB müsse verhindert werden, fordert die FDP-Fraktion. Bundesrat Moritz Leuenberger müsse seine Aufsichtsfunktion wahrnehmen und dürfe der Entwicklung nicht weiter tatenlos zusehen.

swissinfo, Françoise Gehring, Bellinzona
(Adaption aus dem Italienischen, Corinne Buchser)

In Bellinzona werden 126 Stellen abgebaut sowie 18 Stellen nach Chiasso und mindestens zehn nach Yverdon verschoben.

249 Stellen sollen am Hauptsitz von SBB Cargo in Basel gestrichen werden, von denen 65 bereits durch einen im letzten Herbst eingeführten Anstellungsstopp vakant blieben.

Freiburg ist mit dem Abbau von 51 Stellen und der Verlagerung von 114 Stellen nach Basel betroffen. 46 Stellen werden zudem von Biel nach Yverdon und Olten verschoben. Im Industriewerk Yverdon sollen insgesamt zusätzliche 80 Arbeitsplätze aufgebaut werden.

Inhaltlich geht es darum, den Grossunterhalt der SBB-Lokomotiven schrittweise im Industriewerk Yverdon zu konzentrieren, wie es in der Mitteilung von SBB Cargo am Freitag heisst.

Der Unterhalt von Güterwagen in Bellinzona soll künftig in Partnerschaft mit privaten Unternehmen ausgebaut werden.


Verkaufs- und Auftragsbearbeitung sowie Kundeninformation werden in Basel konzentriert.

Der Verkehrsminister Moritz Leuenberger schaltet sich persönlich in den Konflikt um die SBB-Werke in Bellinzona ein.

Am Mittwoch trifft er die Tessiner Regierung und eine Delegation des Kantonsparlamentes zu einem Gespräch. Dies sagte Leuenberger am Montag in der Fragestunde des Nationalrates.

Den Beteiligten schlug er zudem einen Runden Tisch vor. Ansprechpartnerin der Arbeitnehmenden sei die SBB, mit der Kantonsregierung führe der Bund den Dialog.

Leuenberger sagte weiter, dass die Sanierungsmassnahmen angesichts der anhaltenden roten Zahlen bei der SBB-Tochter unumgänglich seien.

Dass die Lage durch das Management und den Verwaltungsrat der SBB nicht erkannt worden sei, müsse abgeklärt werden. Die Sanierung hätte bereits zu einem früheren Zeitpunkt einsetzen müssen, erklärte der Verkehrsminister.

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