Schweiz- Europa: Der bilaterale Weg funktioniert
Die Schweizer Regierung hat einen neuen Bericht zur Europapolitik vorgelegt. Für den Politologen René Schwok ist er die Fortsetzung der bisherigen Europa-Politik.
Gemäss dem Wissenschafter der Universität Genf bekennt sich die Landesregierung zum bilateralen Weg, der von der Mehrheit des Volkes und des Parlaments gutgeheissen wurde.
swissinfo: Der Europabericht 2006 scheint niemanden ganz zufrieden zu stellen. Weder die Befürworter eines EU-Beitritts noch die Gegner.
René Schwok: Der Bericht liegt ganz im Rahmen des Auftrags, den die Mehrheit von Volk und Parlament dem Bundesrat erteilt hat. Der Inhalt überrascht mich nicht. Wir befinden uns in einer Demokratie und daher ist es ganz normal, dass der Bericht den Mehrheitswillen spiegelt, der weder auf einen EU-Beitritt noch auf einen kompletten Alleingang setzt.
Man darf nicht vergessen, dass das Schweizer Volk diese Politik mehrfach gutgeheissen hat. Die Volksinitiative der Schweizer Demokraten und der Lega dei Ticinesi zum Rückzug des EU-Beitrittsgesuchs wurde genauso abgelehnt wie die Initiative der Neuen Europäischen Bewegung für eine Beschleunigung der Beitrittsverhandlungen.
Mich freut es, dass im Bericht ein Beitritt «light» als mögliche Alternative genannt wird. In den früheren Europaberichten war ein solcher Beitritt mit gewissen Sonderregelungen als unwahrscheinlich bezeichnet worden.
Enttäuscht bin ich hingegen über die Tatsache, dass der Bericht die Rolle der EU zu wenig reflektiert. Die Anstrengungen der EU für ein Wachstum des Wohlstands und die Stabilisierung der sozio-politischen Situation in Europa werden zu wenig gewürdigt.
swissinfo: Der Bundesrat will einerseits die Öffnung der Schweiz vorantreiben, andererseits bezieht er zum EU-Beitritt keine klare Position. Warum bleibt die Haltung so schwammig?
R.S.: Es stimmt, dass sich der Bundesrat nicht zum Beitritt äussert. Doch in der Substanz hat er eine Politik bestätigt, welche die Schweiz seit 60 Jahren betreibt. Dieser dritte Weg hatte verschiedene Namen in der Geschichte: Freihandelszone, Europäischer Wirtschaftsraum und bilaterale Abkommen.
Ich bin der Meinung, dass die Position eigentlich recht gut definiert ist. So wird auch die Absicht bekundet, noch 15 weitere bilaterale Abkommen zu verhandeln.
swissinfo: Die Schweiz hat mit der EU bereits zwei Pakete mit bilateralen Abkommen abgeschlossen. Nun sollen im Gesundheitswesen oder bei der Landwirtschaft neue Abkommen verhandelt werden. Und was kommt danach?
R.S.: Die Schweiz will diese neuen Verträge offenbar einzeln und nicht in einem dritten Paket verhandeln, so wie das umgekehrt von Brüssel gewünscht wird. Die EU will übrigens auch die Steuersouveränität der Kantone in diese nächste Verhandlungsrunde einbringen.
Sicherlich gibt es etliche Ungewissheiten in Bezug auf die neu zu beratenden Abkommen. Die Liste der zu verhandelnden Themenbereiche von Schweizer Seite ist nicht definitiv. Und auf Seiten der EU ist nicht bekannt, ob es Dossiers gibt, welche die Gesamtheit der Abkommen gefährden könnten. Ausserdem ist fraglich, ob die bilateralen Abkommen allenfalls rechtlich in einen Rahmenvertrag umgewandelt werden können.
Man muss auch noch offene Fragen in Bezug auf das Freihandelsabkommen von 1972 klären. Denn da gibt es Meinungsunterschiede. Die EU ist – im Gegensatz zur Schweiz – der Auffassung, dass dieses Abkommen ihr das Recht einräumt, die Steuerpolitik einiger Kantone zu kritisieren.
swissinfo: Die Kohäsionsmilliarde welche die Schweiz der EU versprochen hat, kommt noch vors Volk. Könnten im Falle eines Neins die gesamten bilateralen Verträge platzen?
R.S.: Rein rechtlich gesehen wird es für die EU schwierig, Abkommen aufzulösen, die sie bereits ratifiziert hat. Ich habe den Eindruck, dass die EU und die Schweiz nach anderen praktikablen Lösungen suchen würden, wenn das Schweizer Volk die Kohäsionsmilliarde bachab schicken sollte.
Persönlich bin ich aber überzeugt, dass die Schweizer an der Urne dem Kohäsionsbeitrag zustimmen werden. Das Volk hat bei anderen und teilweise hoch emotionalen Vorlagen wie dem Schengen-Abkommen und der Erweiterung der Personenfreizügigkeit auch Ja gesagt.
swissinfo: Welchen Stellenwert hat eigentlich noch das EU-Beitrittsgesuch der Schweiz, das seit 14 Jahren in Brüssel liegt, aber eingefroren ist?
R.S.: Ich messe diesem Gesuch keine grosse Bedeutung zu. Meiner Meinung nach handelte es sich dabei um einen diplomatischen Schachzug, um die EU nicht zu irritieren. Ich glaube, dass sich die EU sehr wohl bewusst ist, dass ein Beitritt für Bern momentan nicht in Frage kommt.
swissinfo: Wie sehen Sie die Beziehung Schweiz-EU in den kommenden 10 Jahren?
R.S.: Wahrscheinlich wird es einige zusätzliche Abkommen geben und das Gesamtpaket wird besser strukturiert. Aber der bilaterale Weg wird sich in den kommenden 10 Jahren nicht substantiell ändern.
Bevor überhaupt von einem möglichen Beitritt gesprochen werden kann, müsste Europa extrem an Attraktivität gewinnen und die rot-grünen Kräfte im Schweizer Parlament müssten die Mehrheit haben.
Man muss auch anerkennen, dass der bilaterale Weg gut funktioniert. Es ist daher normal, auf diesem Weg fortzuschreiten.
swissinfo-Interview: Luigi Jorio und Marzio Pescia
(Übertragung aus dem Italienischen: Gerhard Lob)
Die Schweizer Regierung denkt darüber nach, einige neue bilaterale Abkommen mit der EU zu verhandeln.
Am Mittwoch hat der Bundesrat beschlossen, Sondierungsgespräche mit der EU im Agrar- und Lebensmittelbereich aufzunehmen. Ziel: Ein Freihandelsabkommen.
Bauern- und Wirtschaftsverbände sowie die Nahrungsmittelindustrie und Detailhändler haben gewisse Skepsis gegenüber diesen Plänen angebracht, sind aber nicht grundsätzlich dagegen.
Im Frühjahr 2007 wird entschieden, ob die Verhandlungen offiziell aufgenommen werden. Mit einem Abschluss dieser Verhandlungen ist nicht vor 2015 zu rechnen.
1972: Die Schweiz und die Europäische Gemeinschaft unterzeichnen ein Freihandelsabkommen.
1992: Bern deponiert in Brüssel ein Beitrittsgesuch zur EU. Im gleichen Jahr verwirft das Volk den Beitritt zum Europäischen Wirtschaftsraum. EWR
2002: Das 1. Paket der bilateralen Vertäge mit der EU tritt in Kraft.
2004: Bern und Brüssel unterzeichnen die 2. bilateralen Verträge II
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