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Schweizer Spechte in der chinesischen Onlinemauer

picidae

Internetzensur macht immer wieder Schlagzeilen, vor allem jetzt, während der Olympischen Sommerspiele in China. Zwei Schweizer Online-Künstler beteiligen sich mit einem Kunstprojekt an der Umgehung der Internet-Filter.

Mit einer Tausende Kilometer langen Mauer wollten die chinesischen Kaiser einst ihr Reich gegen Bedrohungen von aussen schützen. Sie ist das grösste, von Menschenhand erschaffene Bauwerk. Ähnliches scheint die heutige chinesische Regierung im Sinn zu haben: «The Great Chinese Firewall» umfasst elektronisch das gesamte, riesige Reich. Auch hier möchte die Regierung ihr Volk – und damit sich selbst – vor ungesunden Inhalten aus dem Ausland schützen.

Im Ausland wird dieses Schutzbestreben etwas anders bewertet. Man spricht von Zensur und Willkür, wenn Webseiten wie BBC News, Deutsche Welle und viele andere nicht erreichbar sind.

Löcher in die Mauer schlagen

Die beiden Online-Künstler Christoph Wachter und Mathias Jud haben eine Technik entwickelt, mit der Löcher in «The Great Chinese Firewall» geschlagen werden können.

Denn diese verhindert das Aufrufen zensierter Webseiten innerhalb Chinas, indem sie Webseiten und Webadressen auf spezielle Begriffe wie Demokratisierung oder Tiananmen-Platz durchsucht.

Mach Dir ein Bild…

Ruft man nun Wachters und Juds picidae auf, erscheint ein Feld zur Eingabe einer Webadresse. Der picidae-Server analysiert die Originalwebseite, erstellt ein Bild davon und macht alle auf dem Bild ersichtlichen Links anklickbar. Dann schickt der pici-Server die Seite zurück.

Beispiel: Die Suchmaschine Google ist in China zwar erreichbar, aber sie ist zensiert. Mit picidae kann man eine ausländische Googleseite aufrufen, die dann viel mehr Resultate bringt.

«… grenzenloser virtueller Freiraum»

picidae wurde aber nicht explizit gegen die Zensur in China geschaffen, Wachter und Jud gehen das Problem differenzierter an: «Zwar verspricht uns das World Wide Web einen grenzenlosen virtuellen Freiraum, in dem wir uns frei ausdrücken können, in dem Informationen frei zirkulieren. Aber es gibt eben faktisch auch Grenzen, die Zensur», erklärt Mathias Jud gegenüber swissinfo.

«Wir wollten ein Instrument, um diese Grenzen zu erfahren. Und da haben wir mit picidae ein System entwickelt, das uns solche Dinge möglich macht», ergänzt Christoph Wachter und erwähnt weiter, dass auch in der Schweiz Internetzensur ausgeübt werde.

Jeder kann sich beteiligen

Natürlich hat die chinesische Online-Polizei die picidae-Website inzwischen gesperrt. «Aber es gibt viele Menschen, die diese Seite spiegeln, andere lesen sie auf Audiofiles vor, andere filmen sie ab und stellen sie auf youtoube», erklärt Jud.

«Vieles in unserem Projekt geht gar nicht über unsere Webseite, denn jedermann kann einen picidae-Server installieren und ihm einen anderen Namen geben. Deshalb ist das Netzwerk so aufgebaut, dass niemand, nicht einmal wir selbst, sehen, wo diese pici-Server aufgebaut sind.»

«Erwachsenes, selbständiges Projekt

Die beiden haben auch kein Interesse daran, die Fäden in ihrer Hand zu behalten: «Es war von Anfang an unser Ziel, dass dieses Projekt über uns hinauswächst. Über diese eine Webseite als Idee, als Software, aber auch als grundsätzliche Möglichkeit, andere Betrachtungen anzustellen», sagt Wachter.

Das Projekt ist nun erwachsen und selbständig geworden. «Es war ja unser Ziel, ein so genannt chaotisches Netzwerk zu generieren, das nicht von einem Ort ausgeht und uns selbst nicht abhängig macht», komplettiert Jud.

picidae?

Mit den ersten Entwürfen für ihr Projekt haben Christoph Wachter und Mathias Jud vor rund eineinhalb Jahren begonnen. Vor einem Jahr haben sie die praktische Durchführbarkeit in China selbst ausprobiert.

«Wir wollen als Künstler unsere Möglichkeiten ausloten. Wenn wir so etwas realisieren, müssen wir uns auch die technischen Kenntnisse aneignen», erklärt Jud.

«Das heisst konkret, dass wir eigentlich beide permanent überfordert sind. Wir arbeiten also mit grosser Spannung selbst an den Grenzen», sagt Wachter grinsend.

Die Künstler haben ihr Projekt «picidae» getauf, was lateinisch Specht bedeutet. «Mauerspechte nennt man jene, welche Löcher in die Berliner Mauer schlugen, um sich an deren Beseitigung zu beteiligen» sagt Mathias Jud lachend.

«Und so ist picidae auch ganz bewusst eine Verführung in eine andere Welt. Der Blick in eine Welt, in der wir andere Informationszugänge haben», sagt Wachter.

Picidae sei aber auch reizvoll, wenn man es umgekehrt anwende, mein Jud: «Wir haben einen Server in Thailand. Damit können wir diese bunten thailändischen Seiten abrufen, die erscheinen, wenn die thailändischen Behörden zensieren.»

swissinfo, Etienne Strebel

Am 20. und 21. August 2008 installieren Walchter und Jud im Kunstraum Walcheturm Zürich eine Wang Ba, ein chinesisches Internet-Café. Die Besucher können dort die Internetzensur wie in Peking erleben und mit picidae aushebeln.

Die installierten Applikationen sollen auch das Aufspüren von Internet-Zensur in der Schweiz ermöglichen.

Christoph Wachter (42), geboren in Zürich, lebt in Berlin, Deutschland.
Mathias Jud (34), geboren und wohnhaft in Zürich.

Ausstellungen, Präsentationen, Awards 2008

Kunstraum Walcheturm, Zürich
Werkleitz, Halle, Deutschland
Galerie IG Bildende Kunst, Wien
Manchester Art Gallery, Futuresonic, Manchester, UK (Commissioned Work)
Piet Zwart Institut, Rotterdam, Niederlande
V2, Rotterdam, Niederlande
Liedts-Meesen Foundation, Gent, Belgien
Transmediale, Berlin, Deutschland (Honourable Mention)

Ausstellungen, Präsentationen, Awards 2007

FILE RIO, Rio de Janeiro
Werkleitz Gesellschaft, Zentrum für Künstlerische Bildmedien Sachsen-Anhalt, Halle (Saale)
Shift Electronic Arts Festival, Basel, Schweiz
Monitoring, Kulturbahnhof/Kasseler Kunstverein, Kassel, Deutschland
Golden Cube 2007 (Honourable Mention)
Werkbeitrag Bildende Kunst, Kanton Zürich, Schweiz
Werkbeitrag Digitale Kunst und Kultur, Migros Kulturprozent, Schweiz

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