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Stromlücke oder Denklücke?

Neue AKWs am Horizont? Dampffahne aus dem Kühlturm des AKW Gösgen. Keystone

1977 fand der Pfingstmarsch von 10'000 AKW-Gegnern nach Gösgen statt - genau dort, wo die Atel nun das erste neue Atomkraftwerk bauen will. Die Energiewirtschaft spricht von einer drohenden "Stromlücke", die AKW-Gegnerschaft von einer "Denklücke".

Mitten in die Fussball-Europameisterschaft platzte im Juni 2008 erstmals seit Jahrzehnten ein Gesuch für ein neues Atomkraftwerk herein. Das neue AKW des Stromkonzerns Aare-Tessin AG für Elektrizität (Atel) soll im solothurnischen Niederamt auf den Gemeindegebieten von Däniken (wo bereits das AKW Gösgen steht), Gretzenbach und/oder Niedergösgen gebaut werden.

Hintergrund für den Neubau ist für Atel der sich abzeichnende Versorgungsengpass. Dieser entstehe, weil der Stromverbrauch steige und das Stromangebot wegen der Ausserbetriebnahme der älteren Kernkraftwerke und dem Auslaufen von Langzeit-Importverträgen sinken werde. Die Stromkonzerne prognostizieren für 2020 gar eine «Stromlücke».

Während die Wirtschaft und bürgerliche Politiker den Atel-Vorstoss begrüssten, kündigten AKW-Gegner bereits das Referendum an. Das Gerede der Energiebranche von einer «Stromlücke» zeuge einzig von einer «Denklücke», monieren diese. Jürg Buri, Präsident der Allianz ‹Nein zu neuen AKW› und Geschäftsleiter der Schweizerischen Energiestiftung (SES), spricht gegenüber swissinfo sogar von einer «grossen Stromlüge».

1 + 2 = 2 zu viel

Anfang Dezember 2008 reichten die Energieunternehmen Axpo und BKW Bewilligungs-Gesuche für den Ersatz der Atomkraftwerke Beznau I und II AG sowie Mühleberg BE an den bestehenden Standorten ein. Die Ersatz-AKWs sollen nach 2020 in Betrieb genommen werden.

Die Schweizer Medien kritisierten die sich konkurrierenden Stromkonzerne und sprachen von «neuen Atomkraftwerken auf Vorrat». Würde das Atomprogramm so realisiert, könnte die Schweiz 2030 im Strom schwimmen. Der Strombranche wurde empfohlen, sich auf nur ein AKW zu einigen.

Kein Spaziergang für die AKW-Promotoren

Werden die Bewilligungsgesuche von Bundesrat und Parlament nach einem umfangreichen, rund 4-jährigen Verfahren gutgeheissen, ergreift die Allianz ‹Nein zu neuen AKW› das Referendum, sagt Jürg Buri. «Damit kann das Volk, vielleicht 2013, erstmals Nein sagen zu neuen AKWs. Bisher konnte es nur Ja zu den Alternativen sagen.»

Bei einem Ja für neue AKWs folge für die AKW-Promotoren noch ein mindestens 10 Jahre dauernder verfahrenstechnischer Hürdenlauf bis zur endgültigen Betriebsbewilligung, so Buri.

Neue AKWs kommen zu spät

Weil die AKW-Frage die Bevölkerung in zwei etwa gleich grosse Lager spalte, sei auch mit Protesten und Widerstand zu rechnen. Die neuen AKWs könnten die ersten Kilowattstunden frühestens ab 2023 ins Netz liefern.

Da sei es viel vernünftiger, nicht so viel Zeit zu verlieren und die ganze Kraft sowie die finanziellen Mittel in sofort verfügbare Stromspartechnologien und Stromproduktion aus erneuerbaren Energien zu investieren, meint Buri.

Starke Anti-AKW-Bewegung

In den 70er-Jahren prognostizierten die Energieunternehmen – wie heute – eine baldige Stromlücke, wenn nicht mindestens neun zusätzliche AKWs erstellt würden. Zwei davon wurden gebaut (1978 Gösgen SO und 1984 Leibstadt AG).

1977 nahmen 10’000 AKW-Gegner am Pfingstmarsch nach Gösgen teil – der Beginn der starken Anti-AKW-Bewegung in der Schweiz. Das dritte Projekt, Kaiseraugst bei Basel, wurde so heftig bekämpft, dass es 1988 beerdigt werden musste.

Unter dem Eindruck der Katastrophe von Tschernobyl 1986 sagte das Schweizer Stimmvolk 1990 Ja zu einem 10-jährigen AKW-Moratorium. 1998 entschied der Bundesrat den faktischen Ausstieg aus der Kernenergie.

Die Zeiten ändern sich

Nach Ende des Moratoriums forderte die Atomlobby sofort neue Anlagen. 2003 wurden die beiden Volksinitiativen «Strom ohne Atom» (für den Ausstieg) und «Moratorium Plus» (für ein weiteres 10-jähriges Moratorium) abgelehnt.

2005 trat das revidierte Kernenergiegesetz in Kraft. Dieses lässt die Option Atomenergie offen und unterstellt neue AKWs dem fakultativen Referendum. Im Februar 2007 beschloss der Bundesrat, die bestehenden AKWs zu ersetzen oder durch Neubauten zu ergänzen.

Sauber und sicher?

Der drastische Höhenflug der Ölpreise 2008 sowie die Klimawandel-Diskussion brachten die Argumente der Stromwirtschaft zugunsten neuer AKWs – saubere und sichere Energie – wieder auf Vordermann.

Sogar Energieminister Moritz Leuenberger sprach sich jüngst am Europa-Forum in Luzern für Kernenergie aus. Er bezeichnete zwar den Begriff «Stromlücke» als eine Wortschöpfung der Stromwirtschaft. Er bevorzuge den Ausdruck «Stromknappheit». Die Schweiz brauche aber die Kernenergie, auch aus klimapolitischen Gründen.

Für Jürg Buri eine «katastrophale Aussage». Die Atomenergie habe sich in den letzten 30 Jahren nicht weiter entwickelt. Sie habe bis heute weder ihr Sicherheitsproblem noch ihr Atommüllproblem gelöst.

«Und so lange das so bleibt, ist sie wahrscheinlich die wenigst nachhaltigste Technologie und vermutlich auch die teuerste für unsere Kinder und Kindeskinder.»

Jean-Michel Berthoud, swissinfo.ch

Beznau-I und II (Döttingen, Aargau), Nordostschweizerische Kraftwerke (NOK).
In Betrieb seit 1969 und 1971, Stromproduktion 2007: 3 Mrd. kWh und 2,9 Mrd. kWh.

Mühleberg, Bern, Bernische Kraftwerke AG (BKW).
1972, 2,9 Mrd. kWh.

Gösgen (Däniken, Solothurn), Aare-Tessin AG für Elektrizität (Atel).
1979, über 8,1 Mrd. kWh.

Leibstadt, Aargau, Elektrizitäts-Gesellschaft Laufenburg AG (EGL).
1984, 9,4 Mrd. kWh.

Ab 2020 müssen Mühleberg sowie Beznau I und II altershalber ersetzt werden. Gösgen hat eine Lebensdauer bis 2040, Leibstadt bis mindestens 2045.

Der Anteil der Kernenergie an der inländischen Stromproduktion beträgt im 10-Jahresdurchschnitt 39%, im Winter bis zu 45% und liegt damit über dem europäischen Durchschnitt von rund 33%.

Mehr als die Hälfte der Schweizer lehnen die Stromproduktion mit Atomkraftwerken ab. Dies ergab eine Eurobarometer-Umfrage vom September 2008 im Auftrag des Bundes.

52% der Befragten äusserten sich eher gegen oder vollständig gegen Atomkraftwerke. Das Lager der Befürworter kommt laut Bundesamt für Energie (BFE) auf 40%.

Gross sind auch die Fragezeichen punkto Lagerung von radioaktiven Abfällen. Praktisch alle der gut 1000 Umfrage-Teilnehmenden drängten auf eine Lösung.

Mit diesem Ergebnis ist laut BFE die Ablehnung des Atomstroms in der Schweizer Bevölkerung deutlich stärker als in der EU. Dort hatten sich nur 45% gegen die Kernenergie ausgesprochen.

swissinfo.ch

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