Vorläufig kein Gackern unter freiem Himmel
Seit knapp vier Wochen müssen in der Schweiz Hühner, Enten und anderes Federvieh aus Angst vor der Vogelgrippe im Stall bleiben.
Auch Dora Schertenleibs Hühner und Enten im Emmentaler Dorf Rüedisbach haben weniger Auslauf als üblich – und legen prompt weniger Eier.
Wer von Wynigen zum Weiler Rüedisbach im Emmental fährt, sieht grasende Kühe, ab und zu auch Schafe. Hühner, die eigentlich zum Bild dieser ländlichen Gegend gehören, fehlen. Ein Hahn kräht, zu sehen ist er nicht.
Seit dem 25. Oktober herrscht Hausarrest für Federvieh – eine Vorsichtsmassnahme im Zusammenhang mit der Vogelgrippe. 1,5 Millionen Freilandhühner müssen noch bis Mitte Dezember hinter Schloss und Riegel bleiben – bis die Zugvögel aus Osteuropa die Schweiz durchquert haben.
Wo jeder jeden kennt, schert keiner aus
Auch für Dora Schertenleibs Hühner und Enten gibt es zur Zeit kein Scharren und Gackern unter freiem Himmel. Die Hobbygeflügelhalterin musste ihre sieben braunen und gesprenktelten Barnefelder-Hühner, den Hahn und die drei Laufenten einsperren.
«Es gab schon Leute im Dorf, die diese Verordnung einen Blödsinn fanden und jammerten, dass sie die Kosten für den Aufwand selber berappen müssen.»
Schliesslich haben sich aber alle gefügt und sich irgendwie organisiert. Man hat sich beraten, wie der Stallzwang am besten umzusetzen sei. Ein Ausscheren gibt es nicht in diesem 250-Seelen-Dorf – die Sozialkontrolle spielt bestens.
So wurde das Nachtrevier, das dem Federvieh von Dora Schertenleib Schutz vor Fuchs und Marder gewährt, auch tagsüber zum Zuhause der Tiere. Eng ist es allerdings nicht im Hühnerhof. «Ich könnte etwa dreimal so viele Tiere halten», sagt die Rüedisbacherin.
Aus Drahtgeflecht, Vogelnetz und Plastik baute sie den Tieren einen kleinen Vorhof vor dem Hühner- und Entenhaus. Zudem können die Vögel unter das Haus kriechen und im Sand scharren. Es muss gewährleistet sein, dass kein Vogelkot ins Gehege gelangen kann.
Erträglicher Mehraufwand
Da sich die Hühner und Enten vorübergehend nicht auf der Wiese tummeln und kein Gras fressen können, füttert sie Dora Schertenleib mit Salat. Der Aufwand sei etwas grösser geworden, aber tragbar.
Die Tiere haben sich an die neuen Umstände gewöhnt. Zwar legen die Hühner etwa ein Drittel weniger Eier als üblich. Bei ihr falle das nicht ins Gewicht, bei anderen, die mehr Tiere hätten, schon.
Schlimm sei es zu Beginn für die Enten Hansi, Berta und Frieda gewesen, sagt Dora Schertenleib. «Sie können nicht mehr im Bach schwimmen und waren verstört. Ich hatte Angst, sie würden das Eingesperrtsein nicht überleben, so aufgeregt waren sie in den ersten Tagen.»
Der Nachbar ist der beste Kontrolleur
Vom Stallzwang hat die 55-Jährige aus Radio und Zeitungen erfahren. «Ich finde es schon etwas merkwürdig, dass von Behördenseite nie ein Schreiben kam. Auch im Amtsanzeiger war nichts darüber zu lesen.»
Sie vermutet, dass der zuständige Kantonstierarzt auf die soziale Kontrolle im Dorf zählt und der Tierarzt aus der Gemeinde Wynigen jene Leute ermahnt, welche die Verordnung ungenügend befolgen.
Für Manfred Gygax, Tierarzt in Wynigen, ist klar, dass der Kanton auf die Selbstkontrolle zählt. «Der Nachbar ist der beste Kontrolleur.»
Gegenüber swissinfo bestätigt er, dass die Mitteilung via Medien erfolgte. Er selber sei vom Kanton schriftlich informiert worden, aber erst nachträglich.
Die industriellen Geflügelhalter, so Gygax, seien vermutlich von ihren Abnehmern über den Stallzwang in Kenntnis gesetzt worden.
Geringe Seuchengefahr
Tierarzt Gygax schätzt die Gefahr für das Geflügel in seinem Einzugsgebiet als gering ein. «Sie ist beileibe nicht so gross wie dargestellt wird. Wir haben hier keine Wasservögel, die durchziehen.»
Gygax macht keine Kontrollen. Er redet mit den Leuten und sagt ihnen, dass der Stallzwang auch für Privatleute gilt. Er ist erstaunt über das Improvisationstalent, das an den Tag gelegt wurde. «Ob die provisorischen Bauten auch den Herbststürmen standhalten werden, wird sich zeigen.»
Keine Angst vor Vogelgrippe
Auch wenn sich Dora Schertenleib an die Verordnung hält, Angst hat sie persönlich nicht, dass die Vogelseuche ihre Tiere befallen könnte. Wäre der Stallzwang nur empfohlen worden – wie die Grippeimpfung für Menschen – hätte sie sich nicht daran gehalten.
«Heute sind wir über so Vieles informiert, das irgendwo auf der Welt passiert. Eine gewisse Vorsicht ist vielleicht angesagt, bestimmt aber keine Panik», sagt die Frau aus Rüedisbach, wirft den Enten und Hühnern noch ein paar Salatblätter in den Stall und schliesst die Türe sorgfältig zu.
swissinfo, Gaby Ochsenbein, Rüedisbach
In der Schweiz gibt es 6,5 Mio. Hühner, davon 1,5 Mio. Freilandhühner.
Seit dem 25. Oktober bis 15. Dezember 05 gilt eine vom Bundesrat verordnete Stallpflicht.
Sie betrifft nebst Hühnern auch Truten, Perlhühner, Rebhühner, Fasane, Wachteln, Enten, Gänse und Strausse.
Das Freilaufverbot soll verhindern, dass Zugvögel aus infizierten Gebieten die Tierseuche einschleppen.
Wer die Stallpflicht missachtet, muss mit Bussen bis zu 20’000 Franken oder einer Gefängnisstrafe bis 8 Monaten rechnen.
Der Weiler Rüedisbach liegt auf 644 m über Meer und zählt rund 250 Einwohnerinnen und Einwohner.
Dora Schertenleib, 55-jährig, ist Hobbygeflügelhalterin.
Sie hat 7 Barnefelder-Hühner, einen Hahn und drei Laufenten.
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