Was ist dran am Linksrutsch der Schweizer Wirtschaftspolitik?
Im Frühjahr 2024 hat die Schweizer Stimmbevölkerung Ja gesagt zur 13. AHV-Rente. Sie stimmte damit zum ersten Mal in der Geschichte an der Urne einem Ausbau des Sozialstaats zu. Was bedeutet das für künftige Abstimmungen?
Das gab es vor der Abstimmung über die 13. AHV-Rente noch nie: Die Schweizer Stimmbevölkerung hat an der Urne einen Ausbau des Sozialstaats beschlossen.
Mit satten 58,2 Prozent stimmte sie einer Volksinitiative der Sozialdemokratischen Partei (SP) zu. Ebenfalls Ja gesagt hat die Mehrheit der Kantone.
So wird ab 2026 die AHV-Rente neu nicht mehr nur zwölf-, sondern dreizehnmal pro Jahr ausbezahlt. Das entspricht einer Rentenerhöhung von etwas mehr als acht Prozent.
Der Polit-Geograf Michael Hermann vom Meinungsforschungsinstitut Sotomo sagte dazu in der Sonntagszeitung vom 3. MärzExterner Link: «Das Ja zur 13. AHV-Rente ist das Ende des liberalen Sonderwegs der Schweiz». Was bedeutet das für die Abstimmung über die BVG-Reform von Ende September?
Das will die BVG-Reform erreichen
Sicher ist: Die Ausgangslage ist deutlich komplexer. Einerseits sollen Teilzeitarbeitende in der beruflichen Vorsorge bessergestellt werden.
Das beispielsweise, indem der sogenannte Koordinationsabzug gesenkt wird. Dadurch müssen Pensionskassenbeiträge neu auf einem grösseren Teil des Lohnes einbezahlt werden.
Das führt dazu, dass mehr fürs Alter gespart wird. Allerdings heisst das auch, dass die Lohnabzüge steigen – was mitunter die linken Parteien, das Gastrogewerbe und die Bäuer:innen stört.
Andererseits soll der sogenannte Umwandlungssatz sinken. Dieser beträgt heute auf dem obligatorischen Teil der beruflichen Vorsorge hohe 6,8 Prozent. Geht es nach dem Willen des Parlaments, soll er auf 6 Prozent gesenkt werden.
Die Folge: Mit einem angesparten Alterskapital von beispielsweise 100’000 Franken gäbe es neu nicht mehr 6800 Franken Rente pro Jahr – wie bisher –, sondern nur noch 6000 Franken.
Um diese Rentensenkung abzufedern, hat das Parlament für fünfzehn Übergangsjahrgänge eine Kompensation beschlossen. Den bürgerlichen Parteien sind diese Kompensationen zu hoch; den Linken zu tief.
Schlechte Aussichten für die BVG-Reform
Was bedeutet nun das vermeintliche Ende des liberalen Sonderwegs für die Abstimmung über die BVG-Reform? Vermutlich: Nicht viel. Die Ausgangslage ist nämlich eine andere.
Das vor allem deshalb, weil die Stimmbevölkerung vergleichsweise schlecht über die Vorlage informiert ist – und darum nicht primär aus ideologischer Überzeugung zu einem Nein tendiert, sondern aus Vorsicht.
Die Nein-Tendenz zeigt beispielsweise die Umfrage von Tamedia, in der nur 33 Prozent der Teilnehmenden sagten, der BVG-Reform zustimmen zu wollen.
Und eine Umfrage vom Frühjahr dieses Jahres zeigt: Die Stimmbevölkerung weiss tatsächlich nur sehr schlecht Bescheid über die BVG-Reform.
Studienautor Michael Hermann spricht von «ungenügenden Basiskenntnissen» und einer «verzerrten Wahrnehmung» der Reformvorlage.
Mit weitreichenden Folgen, so Hermann in der Neuen Zürcher Zeitung vom 8. JuliExterner Link: «Je mehr sich widersprechende Aussagen, Einschätzungen und Behauptungen im Raum stehen, desto eher klammert sich die Bevölkerung an den Status quo.»
Die Vorlage wird es also schwierig haben. Aber nicht so sehr, weil die Schweiz linker geworden ist. Sondern vielmehr, weil die Stimmbevölkerung im Zweifelsfall eher Nein sagt.
In der neuen Folge des SWI-Podcasts Geldcast erzählt Hermann, welche Reaktionen er auf seine Analyse zur 13. AHV-Rente bekommen hat und wie er die Situation heute einschätzt. Hier geht es zum Geldcast in voller Länge:
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