Was ist Heimweh?
Austauschschülerin Lisa Christen (17) hat sich gut in Australien eingelebt. Sie fühlt sich sehr wohl in ihrer Gastfamilie. Es ist immer etwas los.
Und doch kommt bei der Nidwaldnerin plötzlich so etwas wie Heimweh auf. (Teil 6)
Ich war gespannt auf die Geburtstagsparty von Josh. Ich konnte mir nicht vorstellen, wie man bei dieser Kälte feiern kann. Meine Gastmutter Sue fuhr meine Gastschwester Jessica, den Schweizer Austauschschüler Andreas und mich zum Haus von Josh.
Wir waren ein wenig zu früh dort und machten es uns in der einigermassen warmen Stube gemütlich. Als weitere Leute eintrafen, sagte Joshs Mutter, wir sollten alle nach draussen gehen, weil sie dort eine Überraschung für das Geburtstagskind habe. Ein guter Trick, um uns alle aus dem Haus zu kriegen, denn es gab gar keine Überraschung!
Dafür war es draussen bitter kalt. Zum Glück gab es Feuerstellen, die uns warm hielten. Von den vielen erwarteten Gästen tauchte jedoch nur knapp die Hälfte auf, weil wahrscheinlich viele noch müde vom Schulball waren. Es kam irgendwie keine Partystimmung auf, doch es war trotzdem gemütlich.
Einzige in einer Herde Boys? Nein danke!
Die nächsten Tage zogen so dahin. In der Schule habe ich mich gut eingelebt. Obwohl ich sehr gerne Sport treibe, wechselte ich vom Fach Sport zu «Legal Studies», weil sich bei den Sportspielen sowieso jeweils nur die Boys beteiligten. Ich fühle mich nicht so wohl, mich als Einzige in einer Herde von Jungs zu bewegen; vor allem beim Rugby. Im Fach «Legal Studies» werden Gesetze und Rechte behandelt. Es wird dort viel gesprochen und ich denke, dass dies meinem Englisch gut tun wird.
Verrückte Welt: Heisse Schweiz, kaltes Australien
Irgendwie bin ich schon ein wenig neidisch auf das warme, ja geradezu heisse Wetter in meiner Heimat. Ich habe gehört, dass in der Schweiz das Wassersparen begonnen hat und sogar Kühe geschlachtet werden müssen. Auch sei in einigen Schulen «hitzefrei» angesagt.
Aber nicht nur die Schweiz hat Probleme mit der Trockenheit. Auch hier in Australien haben wir zu wenig Wasser für die Felder. Meine Gastmutter Sue sagte mir, dass es um diese Jahreszeit normalerweise wochenlang regne. Doch ich habe bis jetzt nur selten Regen erlebt. Sue meinte, dass sie die Folgen bereits beim Einkaufen spüre, weil die Preise rasant anstiegen.
Wieso bekommt man Heimweh?
Viele Australier fragen mich, ob ich nicht Heimweh habe. Ich habe mir eigentlich gar nie richtig Gedanken darüber gemacht. Ich frage mich, was Heimweh eigentlich bedeutet und wieso man Heimweh kriegt. Natürlich gibt es Momente, in denen ich mich vielleicht nicht so gut fühle oder einfach wieder mal jemanden bräuchte, der mich umarmt. Da kommen manchmal so ungewohnte Gefühle auf. Sie strömen wie eine Welle durch meinen Kopf und reissen viele Bilder mit sich. Sie machen mich traurig und manchmal fühle ich mich, als würde ich erdrückt. Dann stelle ich mir immer wieder die Frage, ob ich nun Heimweh habe.
Gerüche und Düfte aus der Heimat
Es ist ein eigenartiges Gefühl. Ich bin dann wie in zwei Personen geteilt. Über meinem «Ich» entsteht dann ein «Über-Ich». Das «Über-Ich» redete immer auf mich ein und schildert die momentane Situation, meine Gefühle, ohne dass ich dies will. Bilder tauchen auf, wie schön es in der Schweiz ist. Ich sehe meine Familie, meine Freunde, mit denen ich lache. Ich werde an Gerüche erinnert, sei es aus der Küche, sei es Parfum oder der Duft von frisch gewaschenen Kleidern. Doch irgendwann vergesse ich dann für längere Zeit wieder diese Düfte, Gefühle und Gedanken.
Ich bin eigentlich sehr überrascht. So richtig Heimweh, glaube ich, hatte ich erst ein Mal. Klar: Ich denke öfters an die Schweiz und ich würde es schön finden, wieder einmal mit meiner Familie Fondue zu essen oder mit Freunden auszugehen. Aber auch hier gibt es viele Menschen, die ich sehr schätze und mit denen ich mich gut unterhalten und Party machen kann. Es braucht eben auch Zeit, um die richtigen Freunde zu finden, zu wissen, wem man sich anvertrauen kann.
Tonys selbst gebrautes Bier
Mit meinen Gasteltern habe ich ein sehr gutes Verhältnis. Ich sitze manchmal am Abend noch mit ihnen am Tisch und sie lassen mich auch öfters ein Glas Wein oder Bier mit ihnen trinken, das mein Gastvater Tony übrigens selber braut. Auch die beiden Jungs Daniel (4) und Mathew (6) werden langsam zutraulicher und wollen immer, dass ich in ihrer Nähe bin. Mit Jessica (17) verstehe ich mich besonders gut, obwohl wir ganz verschieden sind. Jess ist eher ruhig und bleibt gerne mal zu Hause, was man von mir nicht unbedingt behaupten kann.
Erst vor ein paar Tagen hat mich eine Schulkollegin zu einer Party in Portland eingeladen. Ich war zuerst nicht sicher, ob ich überhaupt hingehen soll. Wer fährt schon wegen einer Party ins 2000-Seelen-Dorf Portland. Da hatte ich mich aber getäuscht! Es kamen etwa 100 Personen und es war Stimmung pur. Ich habe noch nie so viele Leute an einem einzigen Abend kennen gelernt. Etwa um ein Uhr war dann Schluss – Polizeistunde!
swissinfo, Lisa Christen
(bearbeitet von Thomas Vaszary)
Lisa-Deborah Christen (17) lebt zusammen mit ihrer Mutter Elsbeth (53) und den Brüdern Albrecht (23) und Basil (20) in Hergiswil im Kanton Nidwalden. Vater Hans starb im Jahr 2000.
Lisa geht am Kollegium St. Fidelis in Stans NW zur Schule.
Während ihres Austauschjahres besucht sie zusammen mit ihrer Gastschwester Jessica die High School in Lithgow.
Anthony und Suzanne Coleman sind Lisas Gasteltern in Portland. Grant (19), Jessica (17), Mathew (6) und Daniel (4) sind ihre Gastgeschwister.
Die 17-jährige Lisa Christen aus Hergiswil NW geht für ein Jahr lang als Austausch-Schülerin nach Australien.
In Portland, New South Wales, 250 Kilometer von Sidney entfernt, lebt sie bei der Gastfamilie Coleman und besucht zusammen mit ihrer Gastschwester Jessica die Schule in Lithgow.
In ihrem Online-Tagebuch erzählt Lisa von ihren Erwartungen, Erfahrungen und Begegnungen mit den Menschen im Land ihrer Träume – jeweils samstags auf swissinfo.ch.
Wer mit Lisa Kontakt aufnehmen möchte, erreicht sie unter lisachristen86@gmx.ch.
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