Weniger Zins, weniger Vorsorge
Der Mindestzinssatz für Vorsorgegelder soll von 4 auf 3% gekürzt werden. Versicherungen profitieren, Versicherte nicht.
Europaweit ist die Schweiz auf Rang 4, was die Summe der individuellen Vorsorgekapitalien betrifft (siehe Grafik). Vorsorge – ein wichtiges Thema im Alpenland.
17 Jahre alt ist das Gesetz über die berufliche Vorsorge (BVG), 17 Jahre blieb der politisch fixierte Mindestzinssatz für Vorsorgegelder (in der Schweiz: 2. Säule) bei 4%. Dies, obwohl dessen Senkung oder zumindest Flexibilisierung seit Jahren immer wieder thematisiert wurde. Vor allem seitens der Versicherer.
Weil die Börse nun seit bald zwei Jahren abwärts zeigt – und sich die Situation weiter verschlechtere – machte der Bundesrat von seiner Kompetenz Gebrauch, den Zinssatz je nach Anlagemöglichkeiten anzupassen. In diesem Falle nach unten.
Die Regierung überrumpelte alle
Der Entscheid, den Zinssatz ab Oktober 2002 voraussichtlich auf 3% zu senken, kam überraschend. Allein diese Ankündigung löste an der Börse eine Besserbewertung der Titel von Lebensversicherern aus.
Überraschend selbst für die Mitglieder der bundesrätlichen Kommission für die berufliche Vorsorge (BVG-Kommission). Der Grund: Zur Zeit noch die Bestandsaufnahme zum Deckungsgrad der Vorsorge-Einrichtungen.
Gleichzeitig findet zur Zeit die 1. BVG-Revision statt. Der Nationalrat hatte im Frühling beschlossen, die Eintrittsschwelle und auch den Umwandlungssatz zu senken (siehe Link). Voraussichtlich im Herbst wird die Kleine Parlaments-Kammer das Geschäft beraten.
Die nun angekündigte Senkung der Mindestverzinsung um 1% in Kombination mit der Senkung des Umwandlungssatzes bedeutet einen Rentenverlust für künftige Rentenbezüger und -bezügerinnen oder aber eine Erhöhung der Lohnabzüge während des Berufslebens.
Das Rechnungsbeispiel
Aufgrund der unterschiedlichen Versicherungsarten, die es in der Schweiz gibt, lässt sich ein Rentenverlust nur ansatzweise berechnen. Das gesamte Pensionskassen-Vermögen der Schweiz beträgt gegenwärtig schätzungsweise 600 Mrd. Franken. 1% davon sind 6 Mrd. Franken – dies entspricht der Verlustsumme aller Versicherten zusammengenommen.
Bliebe künftig der Mindestzinssatz bei 3%, sind die Rentenverluste je nach Alterskategorie unterschiedlich: für 25 – bis 35-Jährige betrügen sie 15% der künftigen Kapitalsumme bei gleichbleibenden Lohnprozenten, für 35- bis 55-Jährige 10 bis 15%, für 55- 65-Jährige höchstens noch 5%, so die Angaben des Bundesamtes für Sozialversicherung.
Rentensenkungen in Alleinregie
Gewerkschaften und Konsumentenvertreter reagieren dementsprechend entsetzt. Wenn der Bundesrat den Entscheid in die Tat umsetze, beschliesse er im Alleingang eine Rentensenkung, sagte Martin Flügel, Kommissions-Mitglied und Leiter Sozialpolitik beim Christlichnationalen Gewerkschaftsbund (CNG).
Auch Colette Nova, Sekretärin des Schweizerischen Gewerkschaftsbundes (SGB), sprach von einem Skandal und einem Kniefall des Bundesrats vor den Versicherern. In den vergangenen Boomjahren der Börse hätten die Versicherer den Versicherten rund 20 Mrd. Franken vorenthalten.
Dem hält Simone Zindel, Sprecherin des Schweizer Marktführers für kollektive Altersvorsorge Rentenanstalt/Swiss Life, entgegen, der erzielte Überschuss sei zu 95% an die Versicherten weitergezahlt worden. So liege bei der Rentenanstalt die durchschnittlich Anlagerendite seit 1985 bei 5,7%.
5,5% davon hätten die Kunden erhalten. Der Hauptteil der Differenz von 0,2 Punkten sei zur Kostendeckung verwendet worden. In den letzten Jahren seien die 4 Mindestprozente nicht mehr erreicht worden. Das Geschäftssegment hätte im letzten Geschäftsjahr 400 Mio. Franken Verlust eingefahren, so Zindel.
Der Schweizerische Pensionskassenverband (ASIP) hat am Donnerstag das Vorgehen des Bundesrates als übereilt und der Problematik nicht angemessen kritisiert.
Verwunderung bei Börsenhändlern
«Wir fragen uns schon, warum die Regierung einen so drastischen Schritt macht, wenn es nicht schon sehr arg um einzelne Versicherungen steht», vermutet ein Händler.
«Für die Versicherungen ist der Beschluss vielleicht positiv. Sicher aber nicht für die Versicherten und auch nicht für den Aktienmarkt», sagte ein anderer Börsianer. «Der Beschluss wird dazu führen, dass die Versicherungen und die Pensionskassen und andere institutionelle Anleger ihren Anteil an Aktien massiv reduzieren werden», erklärte ein weiterer Händler. «3% lassen sich mit Bonds problemlos erreichen, da braucht’s auch keine grossen Pensionskassen-Manager mehr».
Europaweit auf Platz 4
Innerhalb Europas ist diese Art der beruflichen und individuellen Vorsorge, welche auf dem Kapitaldeckungs-Verfahren beruht, ungleich auf die Länder verteilt. In Grossbritannien haben die Pensions Funds seit langem ihren dominanten Platz in der Vorsorge, wie die letzten vergleichbaren Zahlen aus dem Jahr 1999 der European Federation for Retirement Provision zeigen (siehe Grafik).
Als zweites Land folgt Holland, und als drittes Deutschland. Auf Deutschland entfallen 317 Mrd. Euro. Die Schweiz mit rund 300 Mrd. Euro folgte 1999 knapp auf dem 4. Platz. Insgesamt entfielen 1999 auf die EU-Länder 2400 Mrd. Euro, auf Nicht-EU-Länder 314 Mrd. Euro. Die Schweiz gehört somit im europäischen Vergleich zu den ganz Grossen.
swissinfo und Agenturen
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