Wenn der Konsument vom Hund zur Katze wird
Facebook statt Stammtisch, Guggenheim statt Hochglanz, Partnerwechsel statt Massivmöbel. Hans lernt nie mehr, was Hänschen spielend kann. - Über dem Bodensee lernten Vorausentwickler und Manager Regeln zu brechen und riskierten einen Blick ins 2020.
Wenn Medien-, Marketing- und Telekommunikations-Manager die mittlere und ferne Zukunft vor Augen haben, dann stehen zwei Fragen im Zentrum: «Kann meine Zeitung dereinst auch telefonieren. – Ist das Rascheln von Zeitungspapier eigentlich sexy?»
Sitzordnung gibt es keine, Krawatten kaum. Powerpoint ist Schnee von gestern. Die Atmosphäre ist locker, die Referenten reden frei, die Gespräche sind offen, die Kuhglocken bimmeln.
Das Statussymbol steckt in der Hosentasche. Wer es rauszieht, tut dies, um zu demonstrieren, wie wenig das iPhone von der Zeitung, die telefonieren kann, entfernt ist.
«Ich glaube, dass schon sehr bald ein Gerät mit einem grösseren Bildschirm auf den Markt kommen wird, das die herkömmliche Zeitung ersetzen könnte», sagt der deutsche Internetpionier Ulrich Hegge, Vorausentwickler beim Burda-Verlag.
Dennoch würden gedruckte Medien auch in zehn Jahren vor allem im inhaltlichen und gestalterischen Premium-Bereich eine zentrale Rolle spielen, prognostiziert Hegge.
Die Endlichkeit des Lötens
Das iPhone sei ein Beispiel für einen erfolgreichen Regelbruch. «Statt ein neues Handy zu entwickeln, haben die Entwickler den mp3-Player genommen und ihm nebenbei Telefonieren und Datenübertragung beigebracht», sagt Peter Wienand, Verantwortlicher für das Produktportfolio beim deutschen Provider O2.
«Auch IKEA hat einen Regelbruch begangen: Herkömmliche Möbelhäuser liefern die Möbel nach Hause. Bei IKEA muss sie der Kunde abholen und selbst zusammenbauen. Der Regelbruch ist erfolgreich, weil er sich auf die soziale Entwicklung stützt. Die Leute sind mobil, sie wechseln Job, Partner und Partnerin. Die Konvention im Markt, dass man mit 25 Jahren Möbel kauft hat und diese bis zur Rente in der gleichen Wohnung stehen, wurde obsolet.»
Wienand ist seit mehr als 20 Jahren ein passionierter Modell-Helikopter Pilot. «Die Generation der 16-Jährigen hat eine unglaubliche Virtuosität im Umgang mit den Steuergeräten entwickelt. Ich habe keine Chance mehr, das nachzuholen», erzählt der Manager und meint damit, dass sich die Generation Internet einen völlig unverkrampften, von der Technik losgelösten Umgang mit Touchscreens, Tasten und Computern angeeignet hat. «Wir haben noch gelötet und neue Festplatten eingebaut. Das ist definitiv kein Thema mehr.»
Warum aus Hunden Katzen werden
«Hunde wollen gestreichelt und gefüttert werden, Katzen auch. Hunde lassen sich dressieren, Katzen machen, was sie wollen», sagt der Werber Thomas Strerath: «Das Marketing hat die Kunden wie Hunde behandelt. Das ist in Zeiten der Digitalisierung vorbei. Der Konsument wird zur Katze.»
Einst hätten die Werber dem Kunden per TV-Spots und Anzeigen eingehämmert, dass er dieses oder jenes Produkt einfach haben müsse. Später sei das interaktive Marketing mit Wettbewerben, Aktionen, Teilnahmespielen gekommen. «Push-Marketing war 20 Jahre lang erfolgreich, aber jetzt braucht es andere Modelle», so Strerath.
Der Schlüssel der Veränderung liegt in den Community-Plattformen. «Nicht mehr die Marken entscheiden, woher der Konsument seine Informationen holt, sondern die Konsumenten selber», sagt Strerath: «Kunden glauben selbst einem Facebook-Feind eher als der Marke.»
Konkret heisst das: Wer ein Hotel buchen oder eine neue Digitalkamera kaufen will, orientiert sich – wann und wo er will – an den Erfahrungen und Tipps seiner digitalen Freunde und nicht mehr im Reisebüro oder im Fachgeschäft.
SMS und Gehry: erfolgreiche Regelbrüche
Wissen, was die Kunden wollen, ist eine verbreitete Marketing-Regel. «Kundenbefragungen sind völlig blöd», sagt Peter Wienand: «Wenn wir vor 15 Jahren unsere Kunden gefragt hätten ‹Wollt ihre auf einer völlig rudimentären Tastatur Kurz-Mitteilungen mit maximal 160 Zeichen senden?›, hätten alle gesagt, ‹Ich spinne doch nicht›. – Dennoch ist SMS ein Grosserfolg geworden.»
Dass Kunden zuweilen auch das Falsche wollen, illustriert Thomas Strerath am Beispiel der spanischen Stadt Bilbao, «einer der hässlichsten Städte dieser Welt».
Zur Förderung von Wirtschaft und Tourismus habe Bilbao vor 20 Jahren Ideen gesammelt für ein Standortmarketing. Schliesslich habe sich die Stadt dazu überreden lassen, auf Hochglanzbroschüren zu verzichten und stattdessen den Stararchitekten Frank O. Gehry mit dem Bau des Guggenheim-Museums zu beauftragen. «Auch das ist ein erfolgreicher Regelbruch», so Strerath.
Andreas Keiser, Rorschach, swissinfo.ch
Zum ersten Mal führte der deutsche forward2business-Think Tank in der Schweiz einen Zukunfts-Kongress durch, auf Schloss Wartensee, oberhalb von Rorschach am Bodensee, nahe der deutschen und der österreichischen Grenze.
Teilgenommen haben rund 60, vorwiegend deutsche Chef-Innovatoren, Visionäre, Werber, Medien- und Telekommunikations-Manager.
Im Zentrum stand der «unternehmerische Wert von Grenzverletzungen» und das Betrachten der Lebenswelten im Jahr 2020.
«Nach acht Jahren sind wir in Deutschland ziemlich etabliert», sagt der bei forward2business für die Schweiz zuständige Jörg Richter.
Im Süden Deutschlands sei der Think Tank weniger etabliert. «Wir haben uns Frankfurt oder München überlegt. Verschiedene Kontakte haben uns schliesslich in die Schweiz, ins Dreiländereck geführt.»
Die Reaktionen von Seiten der Schweizer Firmen bezeichnet Richter als «sehr zurückhaltend».
«Man denkt, man kenne den deutschsprachigen Raum, aber das ist überhaupt nicht so. Die Schweiz ist von der wirtschaftlichen Denkweise her ein anderes Land. Die Intention der Schweiz, das Eigene noch behalten zu wollen, ist viel grösser, als in Deutschland.»
Der Kongress soll künftig regelmässig in der Schweiz stattfinden. «Das haben wir von Anfang an so vorgesehen», so Richter.
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