Zwischen Begehren und Reue
Versuchung, Konsum, Reue, Wiederbeginn: Eine Ausstellung in Neuenburg denkt über den Zyklus des Vergnügens nach.
Mit einer Prise Humor wird das zwiespältige Verhältnis der heutigen Gesellschaft zum Begehren offen gelegt.
Die Ausstellung «Begehren und Reue» im Ethnographischen Museum Neuenburg (MEN) lädt zu einem Spaziergang durch ein modernes Eden ein. Sechs Ethnologie-Studentinnen und -Studenten haben die eindrückliche Schau konzipiert.
Werbung als biblische Schlange
Beim Gang durch die Ausstellung stösst die Besucherin, der Besucher zuerst auf den Garten der Versuchung. Farbige Kartonbäume sind mit Werbetafeln überklebt. Es sind alles Glacé-Werbeplakate mit anzüglichen Frauen-Bildern, die zum Konsum verführen sollen.
Auf jedem Baum windet sich eine Schlange. «Dies ist der Ort der Verführung», sagt die Studentin Fiorenza Kuthan gegenüber swissinfo. «Die Werbung übernimmt hier die Rolle der biblischen Versucherin, der Schlange.»
Sehr oft verspreche die Werbung intensives Vergnügen oder ein Lusterlebnis, egal welches Produkt von ihr angepriesen werde, meint Kuthan. «Die erotisierende Werbung wird meistens von männlichen Visionen gesteuert. So setzt man einen schönen Frauenkörper mit Vergnügen gleich und ist überzeugt, dass damit auch mehr Produkte verkauft werden können.»
Tempel der Exzesse
Die beiden anderen Teile der Ausstellung illustrieren das Dilemma des modernen Menschen, der hin- und hergerissen ist zwischen dem Befehl zum Konsum und den Aufrufen zur Mässigung.
Im Raum «Tempel der Exzesse» hat sich der Mensch verführen lassen. Riesige Ansammlungen von Alltags-Gegenständen zeigen einen zwischen Lust und Schuldgefühlen schwankenden Prozess auf. «Nach der Verführung wird konsumiert», präzisiert Kuthan.
Über dem Müllberg mit den Alltags-Gegenständen hängt ein Bild des italienischen Malers Roberto Casaro. Es stellt das letzte Abendmahl mit der verstorbenen Glamour-Schauspielerin Marilyn Monroe anstelle von Jesus dar, umgeben von 12 weiteren früheren Hollywood-Stars. «Damit wird die Heiligsprechung der Vergnügen bereitenden Konsumgüter wie Alkohol, Tabak, Kaffee, Glacé etc. angesprochen», so Kuthan.
Auf dem Haufen ist ein kitschiger Altar platziert, mit künstlichem Kerzenlicht, billigem Wein im Tetrapack und Pommes Chips in einer hässlichen, grünen Plastikschale. «Dieser Altar ist das Symbol der Heiligsprechung von Konsumgütern», fügt Kuthan an.
Der Müllberg wächst bei jedem Schritt bis ans Ende des Raums. «Man konsumiert unaufhaltsam, bis man stirbt – physisch oder auch symbolisch, indem man sich im extremen Konsumverhalten verliert», erklärt Kuthan weiter. Ein Holzkreuz unter der Aufschrift «Eat and Die – Iss und Stirb» illustriert diesen Prozess.
Akzentuiert wird die Szene durch die Spielfilme «La Grande Bouffe» von Marco Ferreri und «Der Sinn des Lebens» von Monty Python, die auf einem TV-Bildschirm zu sehen sind.
Strand der Mässigung
Ein Liegestuhl unter einem Sonnenschirm am Meeres-Strand lädt im dritten Raum zum Verweilen ein. Sommerfreude, Sonnenbad, Schwimmen im Meer: Wohlbefinden und Gesundheit sind angesprochen. «Heute wird nicht mehr im Zusammenhang mit der Religion zur Mässigung und Ausgewogenheit aufgerufen, sondern die Fitness steht im Zentrum», sagt Kuthan.
Nicht mehr die Kirche mit ihrem Gebot «Führe mich nicht in Versuchung» beeinflusse den Diskurs, sondern Worte wie «ausgewogene Ernährung, Vorsorge, Diäten, Medikamente oder Kuren». Für Überfluss und exzessives Leben müsse man nicht mehr in einem hypothetischen späteren Leben büssen. «Schuldgefühle werden heute geschürt durch Körperkult-Industrien», so Kuthan.
Das schlage sich auch in Sätzen nieder wie: Man müsste, man sollte dieses oder jenes tun. «Das Letzte Gericht steht nicht mehr an der Pforte zum Paradies, sondern auf der Waage, beim Arzt oder in einem Spitalbett», sind die Ausstellungs-Verantwortlichen überzeugt. Der Akzent liege auf dem gesunden, nicht mehr auf dem «heiligen» Leben. Die Waage – auf dem Boden neben dem Liegestuhl platziert – weist auf die Gefahr von Essstörungen wie Magersucht oder Bulimie hin.
Endloser Zyklus
Bevor man die Ausstellung verlässt, kommt man – unübersehbar – an einem roten Abfallkübel vorbei. «Alle Mahnungen, alle Diskussionen wirft man schliesslich über Bord, das heisst in den Abfallkübel, und beginnt dann von Neuem. Wir sind gefangen im Zyklus Versuchung, Verbrauch, Reue und Wiederbeginn», so Kuthan.
Sie glaube nicht, dass man diesen Zyklus unterbrechen könne. «Hier liegen die Widersprüche der Konsumgesellschaft. Man kann sich wohl Gedanken machen darüber, was gut oder schlecht ist, aber auf das Vergnügen – ja, die Versuchung – wird kaum jemand je verzichten wollen.»
swissinfo, Alina Kunz Popper
«Zwischen Begehren und Reue» wurde von sechs Studentinnen und Studenten des Ethnologischen Instituts Neuenburg konzipiert.
Die Ausstellung dauert bis zum 25. Januar 2004.
Sie gliedert sich ein in die im Juni eröffneten Hauptausstellung «X – Spekulationen über das Imaginäre und das Verbotene».
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