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1943 floh er vor den Nazis in die Schweiz – jetzt veröffentlicht er sein Flucht-Tagebuch

Ein weisshaariger Mann mit einem Buch vor einem Ölgemälde
Franco Debenedetti mit seinem jüngsten Werk. Michele Novaga

In seinem Buch «Due lingue, due vite. I miei anni svizzeri 1943-1945» schildert der Manager und ehemalige Senator der Italienischen Republik Franco Debenedetti seine Flucht in die Schweiz. Aber auch die Zeit, die er als Flüchtling mit seiner Familie in Luzern bis zum Kriegsende verbrachte, und das Erlernen einer neuen Sprache: Deutsch.

Im November 1943 beschloss die jüdische Familie Debenedetti, aufgrund der unhaltbaren Situation in Italien zu fliehen. Es war zu gefährlich, dort zu bleiben. Nicht nur, weil die Bomben das Haus und die Fabrik der Familie zerstört hatten.

So wurde die Schweiz zum Fluchtziel: Hier konnten die Debenedettis auf die Hilfe einer Luzerner Unternehmerfamilie zählen, mit der sie geschäftlich verbunden waren.

«Meine Mutter informierte mich über den Plan, in die Schweiz zu gehen, und nahm mir das Versprechen ab, niemandem davon zu erzählen, schon gar nicht meinem Bruder», erzählt Franco Debenedetti gegenüber tvsvizzera.it.

Sein Bericht ist so klar und detailliert wie die Handschrift, mit der er in jenen Jahren sein Exiltagebuch schrieb. Es ist ein wertvolles Dokument dieser Flucht und der Zeit, die er in Sicherheit vor den Nazis und Faschisten verbrachte.

Geschrieben hat er es in dieser Phase seines Lebens zwischen 1943 und 1945, als seine Familie gezwungen war, in der Schweiz Zuflucht zu suchen und er noch ein Junge war.

«Meine Mutter gab mir und meinem zwei Jahre jüngeren Bruder Carlo Notizbücher mit der Idee, dass wir jeden Tag in Form eines Tagebuchs aufschreiben sollten, was wir erlebten», sagt er.

Geboren am 7. Januar 1933 in Turin. 1956 Abschluss des Studiums der Elektrotechnik am Polytechnikum Turin und im darauffolgenden Jahr Spezialisierung auf Nukleartechnik.

Ab 1959 arbeitete er im Familienunternehmen Compagnia italiani tubi metalli flessibili, später Gilardini. Von 1976 bis 1978 war er Direktor des Bereichs Komponenten bei Fiat. Von 1978 bis 1992 war er Generaldirektor von Olivetti. In dieser Zeit gründete er Tecnost und Teknecomp und schuf die OiS Computer Services Group.

Von 1986 bis 1994 war er ausserdem Präsident und Geschäftsführer von Sasib, das zur Cir-Gruppe gehört. Im Jahr 2000 gründete er das Interaction Design Institute Ivrea, dessen Präsident er bis 2004 war.

Als Senator in drei Legislaturperioden (12., 13. und 14. Legislaturperiode) war er Erstunterzeichner zahlreicher Gesetzesentwürfe, von denen derjenige über die Bankenstiftungen mit dem Ezio-Tarantelli-Preis für die beste Idee des Jahres 1995 im Bereich Wirtschaft und Finanzen ausgezeichnet wurde.

Debenedetti ist Geschäftsführer mehrerer Unternehmen und seit Januar 2013 Präsident des Bruno-Leoni-Instituts. Er ist Autor von: Ritagli (1996), Sappia la destra (2001), Non basta dire no (2002), Grazie Silvio (2005), Quarantacinque percento (2007), La guerra dei trent’anni (mit A. Pilati, 2009), Il peccato del professor Monti (2013), Popolari addio? (mit G. Fabi, 2015), Fare profitti (2021). Er hat zahlreiche Bücher herausgegeben und kommentiert.

Die Idee, das Tagebuch zu veröffentlichen

Das Originalmanuskript des Tagebuchs ist ein reichhaltiger Band, angereichert mit Zeitungsausschnitten, welche die Entwicklung des Kriegs an allen Fronten schildern, mit Landkarten, Postkarten, Zeichnungen und Briefen von Verwandten, die in Italien geblieben waren.

«Die Idee, dieses Buch zu veröffentlichen, entstand anlässlich des Gedenktags 2023», als mich die Lehrerin meines Enkels bat, meine Erinnerungen aufzuschreiben. Ich machte A4-Fotokopien und liess etwa 20 Exemplare davon drucken», erzählt Debenedetti.

«Nachdem mein Bruder Carlo im vergangenen Jahr sein Tagebuch aus dieser Zeit bei Treccani hatte drucken lassen, rief ich meinen Verlegerfreund Luca De Michelis von Marsilio an und sagte ihm, dass ich auch mein Tagebuch veröffentlichen wolle. Er war von der Idee begeistert, schlug mir aber vor, ein richtiges Buch daraus zu machen, in Kapitel gegliedert, die den Inhalt des Tagebuchs wiedergeben.»

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Die Flucht in die Schweiz

Auf den ersten Seiten wird die heimliche Einreise in die Eidgenossenschaft beschrieben, illustriert durch eine Zeichnung, die ein kleines Haus und einen Zaun mit einem Loch zeigt, durch das die Familie Debenedetti in die Schweiz gelangte.

«Im Zaun war ein kleines Loch. Ich ging zuerst hindurch, dann Papa, dann Carlo, dann Mama. Ohne auf den Mann zu achten, der das Netz hielt und sagte: ‹Ganz ruhig, wir haben es nicht eilig!’ Zwei Schritte über eine kleine, feuchte Holzbrücke und… schon sind wir in der Schweiz! Es war der 9. November 1943, 17.25 Uhr.»

Ein aufgeschlagenes Tagebuch mit einer Zeichnung
Michele Novaga

Der erste Monat in Lugano und das «andere Leben» in Luzern

Von Lugano aus wurde die Familie nach Bellinzona gebracht, wo medizinische Untersuchungen und Verhöre stattfanden. In einem Schlafsaal verbrachten sie die Nacht, während sie darauf warteten, in das Hotel Richard und dann in das Hotel de la Paix in Lugano gebracht zu werden.

Dieser Transfer wurde durch einen Zettel ermöglicht, auf dem ein Bankangestellter die Wertsachen notiert hatte, welche die Familie aus Italien mitgebracht und in Bellinzona deponiert hatte.

«Damit begann unsere Quarantäne, die vom 3. November bis zum 10. Dezember dauerte und während der wir uns nur in Begleitung nach Luzern zu unseren Freunden Meyer Keller begeben durften», erzählt Debenedetti.

Am 11. Dezember 1943 kamen sie schliesslich in Luzern im Gasthaus Rüttimann an, das für eineinhalb Jahre ihr Zuhause werden sollte.

Ein Wertschriftenverzeichnis
Das Wertschriftenverzeichnis der Familie Debenedetti. Michele Novaga

Das Netzwerk der Familie ermöglichte die Einreise in die Schweiz und die Ankunft in Luzern. In Chiasso war es der Zolldirektor, dem Debenedettis Vater das Studium bezahlt hatte. In Luzern die Familie von Otto Meyer Keller.

«Die Meyer Kellers waren die Besitzer der Metallschlauchfabrik Luzern, mein Vater war der Besitzer der italienischen Compagnia italiani tubi metalli flessibili. Zwischen ihnen und der Metallschlauchfabrik Pforzheim der Gebrüder Witzenmann gab es Verflechtungen, Geschäftsvereinbarungen und ausgezeichnete familiäre Beziehungen.»

Deutsch lernen, zu Hause und in der Schule

Adrienne, die Schwester des Fabrikbesitzers, brachte Debenedetti die deutsche Sprache bei und kümmerte sich um dessen ganze Familie, seit diese kurz vor Weihnachten 1943 angekommen war.

«Für mich war es das erste nicht-italienische Weihnachten. Es war auch das erste Mal, dass ich den Weihnachtsbaum mit all den Lichtern, den Kerzen und dem Feuerwerk bewunderte, denn wir kannten nur die Krippe», erzählt er.

«Auch Weihnachtslieder wie ‘Oh Tannenbaum’ und ‘Stille Nacht, heilige Nacht’ lernte ich kennen. Seitdem ist Weihnachten auch für uns ein ‹Schweizer› Fest, und Stille Nacht gehört zur Tradition.»

Adrienne wird zu einer Schlüsselfigur während Debenedettis Aufenthalt in Luzern. Sie bringt ihm nicht nur Deutsch bei, sondern unterhält ihn, nimmt ihn auf Ausflüge mit und kocht für ihn und seine Familie.

«Mein erstes Semester am Kantonalen Gymnasium begann ein Semester später, zu Ostern. In diesen drei Monaten lernte ich Deutsch, dank Adrienne. Sie erfand, obwohl sie nie unterrichtet hatte, eine Methode, um mir Deutsch beizubringen: jeden Tag zehn Vokabeln.»

Am 24. April 1944 schrieb er in sein Tagebuch: «Ich trete zum ersten Mal in die Kantonsschule ein. Dieses Datum markiert eine grosse Veränderung in meinem Leben.»

Ein aufgeschlagenes Tagebuch mit einer Postkarte
Michele Novaga

Schon zu Beginn seines Schulbesuchs schrieb er auf Deutsch. Und im folgenden Jahr, nach Kriegsende, verfasste er einen siebenseitigen Aufsatz mit dem Titel «Warten auf den Frieden».

Darin analysierte Debenedetti, von Geschichte und Militärstrategie fasziniert, den Krieg. Sein Lehrer leitete den Artikel an die Lokalzeitung weiter, die ihn veröffentlichte.

«Entscheidend war für mich die Lektüre von Zeitungen wie der Neuen Zürcher Zeitung und dem Luzerner Tagblatt, die über den Kriegsverlauf von der Landung in Sizilien über die Landung in der Normandie bis zum Einmarsch der Sowjets in Auschwitz berichteten und Karten mit militärischen Strategien und Truppenbewegungen veröffentlichten», fügt er hinzu.

Die Schweiz als ein Land des Willkommens

Von der Angst, an der Grenze abgewiesen zu werden, wie es Liliana Segre, deren Vater und zwei Cousins von Franco Debenedetti mit der Begründung «das Boot ist voll» widerfahren ist, bis zum vorübergehenden Asyl in der Schweiz, habe sich sein Leben bereichert.

«Die Schweiz war mein Schicksal: Durch sie habe ich eine andere Sprache, eine andere Kultur und ein anderes Leben kennen gelernt, wie Thomas Mann in ‘Doktor Faust’ schreibt», sagt er.

«Die Anerkennung der Schweiz als Asylland war wichtig. Ich bin viele Male nach Luzern zurückgekehrt und fühle mich hier zu Hause.»

Übertragung aus dem Italienischen: Christian Raaflaub

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