60 Jahre Israel: «Ein Festival der Verdrängung»
Der in Israel lebende Schweizer Ernest Goldberger liebt sein Land und die Leute. Er ist besorgt über die Apathie und Ohnmacht in der Bevölkerung, bezeichnet die Idee eines jüdischen Staates als Fiktion und sieht das Land vor allem durch innere Konflikte gefährdet.
Nein, einen Grund, den Staat Israel zu feiern, sieht Ernest Goldberger angesichts der besorgniserregenden Realität im Land nicht. Eher müsste man darüber nachdenken, wieso nach 60 Jahren die eigentlichen Ziele des Zionismus nicht erreicht seien. «Stattdessen gab es übertriebene Veranstaltungen, mit denen sich die Politiker eine Bühne schafften, man hörte pathetische Reden, aber nichts über die eigentlichen Probleme.»
Viele Menschen im Land seien sich bewusst, dass es «ein Festival der Übertünchung und Verdrängung» war. «Sie haben trotzdem getanzt und gesungen. Dafür kann man die Leute nicht tadeln, ich kann sie auf eine Art verstehen», sagt der Basler, der 1991 als 60-Jähriger ins «Gelobte Land» ausgewandert ist, mit gewissen «Wunschvorstellungen», wie er sagt.
Er, der inzwischen fliessend Hebräisch spricht, wollte damals sein Lebensumfeld verändern, irgendwohin gehen, wo «Neues wächst». Zudem behagt ihm das Klima, er liebt die Wärme. «So kann ich das ganze Jahr draussen Tennis spielen.»
Schwieriger Alltag
Im Laufe der Zeit musste der Sozialwissenschafter feststellen, dass die Realitäten anders waren: Die Gesellschaft zerrissen, die Politik korrupt. Das Klima werde von Tag zu Tag schlechter, Aggressivität, Intoleranz und Kriminalität hätten zugenommen. «Der Wille, Probleme gewaltsam zu lösen, macht den Alltag nicht leicht. Es gibt sehr viel Armut, und die meisten Menschen müssen um ihr tägliches Brot kämpfen.»
Goldberger ist überzeugt, dass die zionistische Idee eines gerechten Staates umsetzbar gewesen wäre und es noch ist. «Leider hat ein teils religiös gefärbter Nationalismus die Menschen ergriffen. Für diese Bestrebungen waren die Araber im Wege und wurden als fremd betrachtet.» Das eigentliche Problem sei, dass man einen jüdischen Staat mit jüdischem Charakter anstrebte. «Diese fiktive Vorstellung spielt überall hinein und beeinflusst die Politik gegenüber den Arabern, aber auch die Politik nach innen», so Goldberger.
Ohne Friede mit sich selbst sei Friede gegen aussen nicht denkbar. «Und den haben wir in Israel nicht, weil das Land innerlich zerrissen ist.» Die Araber müssten als gleichwertig und gleichberechtigt behandelt werden. Sowohl auf arabischer wie auf israelischer Seite gebe es Leute, die gewillt seien, in Eintracht zusammenzuleben.
Friede mit den Palästinensern
«Wenn wir eine zivilisierte Gesellschaft werden wollen, müssen wir uns mit den Palästinensern einigen. Auch sie wollen zu grosser Mehrheit nichts anderes, als ihre Kinder in Anstand und Würde erziehen und ein menschenwürdiges Leben führen. Ihnen dieses Recht zu nehmen, ist sehr gefährlich», warnt der Schweizer Jude.
Nötig sei auch die sofortige Trennung von Religion und Staat sowie eine bessere Integration Israels im Nahen Osten. «Israel darf kein Vorposten der westlichen Zivilisation sein, als welches es die Araber nicht ganz zu Unrecht sehen.» Goldberger macht den Vergleich zu einem Kreuzfahrerstaat, der eine Zeitlang existiert, vielleicht 100 oder 200 Jahre, und dann wieder verschwindet.
Das Schlagwort «Unrechtsstaat» benutzt Ernest Goldberger nicht. Israel, das keine Verfassung hat, sei eine «Halb-Theokratie», in der die Religion zu einem weiten Teil das Leben der Menschen bestimmt. «Eine Demokratie ist Israel jedenfalls nicht, schon weil die arabischen Einwohner institutionell und sozial diskriminiert werden und Israel die Araber des Westjordanlandes und Gazas militärisch kontrolliert, ohne ihnen elementare Rechte zuzugestehen.»
Im übrigen besitze eine grosse Mehrheit der Israelis keine Demokratie-Tradition. «Für Millionen Einwanderer aus Staaten der ehemaligen Sowjetunion oder arabischen Ländern ist Demokratie im besten Fall die Diktatur einer Mehrheit über eine Minderheit.»
Es bleibt die Hoffnung
«Ich bin ein untypischer Jude unter den Schweizern in Israel», sagt Ernest Goldberger. Die meisten der 13’000 Schweizer seien, wenn auch nicht unbedingt orthodox, doch nationalistisch eingestellt.
Das hat er am eigenen Leib erfahren. Als er, damals Präsident des Schweizer Clubs in Tel Aviv, vor ein paar Jahren sein Buch «Die Seele Israels – Ein Volk zwischen Traum, Wirklichkeit und Hoffnung» vorstellte, bildete sich eine Gruppe von Landsleuten, «die mich aus dem Club werfen wollten, was ihnen auch glückte».
Auch wenn er, der «kritische Denker», wie er sich bezeichnet, ein düsteres Bild seiner Wahlheimat malt, kommt für den 77-Jährigen eine Rückkehr in die Schweiz nicht in Frage, obwohl er deren Föderalismus und Demokratieverständnis bewundert.
In Israel hat Ernest Goldberger seine Familie, seine neunjährigen Zwillingstöchter, die Grossfamilie seiner Frau. Und trotz allem hat er die Hoffnung nicht aufgegeben, dass dieses Land mit seiner «schillernden, vielschichtigen Realität» irgendeinmal den richtigen Weg in die Zukunft finden wird».
swissinfo, Gaby Ochsenbein
1949 anerkannte die Schweiz den neuen Staat Israel und eröffnete in Tel Aviv ein Konsulat. Dieses wurde 1958 zur Botschaft aufgewertet.
Die Schweizer Kolonie in Israel ist mit über 13’000 Personen die grösste im asiatischen Raum.
Israel ist für die Schweiz einer der wichtigsten Exportmärkte im Nahen Osten.
Geboren 1931 in Basel.
Er studierte Volkswirtschaft und Soziologie.
1991 wanderte er nach Israel aus.
2004 erschien sein Buch «Die Seele Israels – Ein Volk zwischen Traum, Wirklichkeit und Hoffnung» im NZZ Buchverlag.
Goldberger lebt mit seiner Frau, einer Israelin aus einer jemenitischen Einwanderer-Familie, und seinen neunjährigen Zwillingstöchtern in Tel Aviv.
Einwohner: 7,1 Millionen, inkl. Golan und Ostjerusalem
Religion: 76% Juden, 20% Muslime, 2,1% Christen, 1,9% andere
Landessprachen: Hebräisch, Arabisch
Handelssprache: Englisch
Regierungsform: Parlamentarische Demokratie
Durchschnittliches Bruttoeinkommen pro Monat: 6750 Schekel (1255 Euro)
Klimazonen: Küstenebene, Bergland, Wüste.
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