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80 Jahre Schweizerisches Zivilgesetzbuch in der Türkei

Statue in Ankara von Mustafa Kemal Atatürk, dem Gründer der modernen Türkei. Keystone

Bundesrat Blocher sprach am Mittwoch an der Universität Ankara zum Inkrafttreten des türkischen Zivilgesetzbuches vor 80 Jahren, dem das Schweizerische ZGB von 1912 Pate stand.

Im Interview mit swissinfo spricht der Historiker und Türkei-Experte Hans-Lukas Kieser über das Zusammengehen von islamischem Rechtsempfinden und europäischer Gesetzgebung.

Am 4. Oktober 1926 setzte die Türkei das ohne grosse Änderungen von der Schweiz übernommene Zivilgesetzbuch (ZGB) und Obligationenrecht (OR) in Kraft. Kurz nach dem Kalifat (1924) wurde 1926 auch die Scharia abgeschafft, ein im Zivilrecht tragend gebliebener, koranisch inspirierter Pfeiler der Gesellschaft.

Dies habe das Herz des gesellschaftlichen Lebens getroffen und sich grundlegend auf die Beziehungen der Türkei zur islamischen Welt ausgewirkt, sagt Hans-Lukas Kieser, Privatdozent für Geschichte an der Universität Zürich und Präsident der Stiftung Forschungsstelle Schweiz-Türkei.

swissinfo: Wie kam es dazu, dass die Türkei vor 80 Jahren einen grossen Teil der Rechtsgebung aus der Schweiz übernommen hat?

Hans-Lukas Kieser: Ein wichtiger Grund war, dass ein ganz neuer Staat von einer jungen Elite aufgebaut wurde und ein Teil dieser Elite in der Schweiz studiert hatte.

Zudem galt das Schweizerische ZGB als das modernste und zudem als jenes, das am schlichtesten, am prägnantesten und am volksnahsten formuliert war.

swissinfo: Welche Veränderungen brachte diese «Rechtsrevolution» der Türkei?

H.-L.K.: Es brachte der Türkei gewaltige Veränderungen. Das Familienrecht ist gewissermassen der Kern des gesellschaftlichen Lebens. Es bedeutet also die vollständige Abschaffung der Scharia-Tradition.

swissinfo: Stichwort Frauenrechte: Hat es auch in diesem Bereich Veränderungen gegeben?

H.-L.K.: Selbstverständlich. Nach traditionellem islamischen Recht ist die Frau bei Erbangelegenheiten und bei der Scheidung stark benachteiligt, und das wurde mit einem Strich verändert, auch wenn in diesem Ausmass nur für Teile der Gesellschaft wirksam. Dies, weil die ‹Rechtsrevolution› vor allem in den Städten greifen konnte, weniger jedoch im Osten der Türkei und auf dem Land.

swissinfo: Ging die Einführung des ZGB in der Türkei problemlos über die Bühne, oder gab es Hindernisse?

H.-L.K.: Ein Haupthindernis ist das Aufzwingen von oben, das heisst eben nicht ein basisdemokratisches Aushandeln. Insofern kam Widerstand von traditioneller, islamischer, aber zum Teil auch liberaler Seite gegen dieses sehr autoritäre Vorgehen des Staates.

Auch wenn das ZGB von den Eliten weitgehend akzeptiert wurde, so war die Durchsetzung eine Sache von Jahrzehnten. Erst in den letzten Jahren kann man von einer ziemlich vollständigen Durchsetzung sprechen.

swissinfo: Kam es wegen des ZGB zu Differenzen zwischen der Türkei und befreundeten islamischen Staaten?

H.-L.K.: Gewiss. Die Einführung des ZGB und die Abschaffung der Scharia führten vor allem auf intellektueller Ebene, im Bereich der islamischen Denker, der religiösen Gelehrten, zu grossen Widerständen, die das Ganze gewissermassen als Abfall von der islamischen Lehre bezeichneten.

swissinfo: Nun sind 80 Jahre vergangen seit der Inkrafttretung des türkischen ZGB. Ende der 80er-Jahre wurde eine Revision an die Hand genommen. Führte diese zu einem grösseren Einfluss der Religion?

H.-L.K.: Nein, es gibt nicht einen grösseren Einfluss der Religion. Man darf durchaus unterstreichen, wie tiefgreifend diese ‹Rechtsrevolution› insofern war, als sie bis jetzt andauert. Die Revision in der Türkei wurde analog mit jener in der Schweiz durchgezogen. Sogar Entscheide und Kommentare des Schweizerischen Bundesgerichtes werden übersetzt.

swissinfo: Kann Bundesrat Blocher als «Eisbrecher» der verhärteten Beziehungen zwischen der Schweiz und der Türkei wirken?

H.-L.K.: Ich weiss nicht, ob er das kann. Aber eigentlich besteht ein grosses positives Potential aufgrund dieser starken Verbundenheit, das die Kraft hätte, auch die schwierigsten Probleme, gerade auch im Zusammenhang mit der türkischen Geschichtsbewältigung, erfolgreich zu lösen.

swissinfo-Interview: Gaby Ochsenbein und Jean-Michel Berthoud

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In den letzten Jahren waren Bundesrats-Visiten in der Türkei wiederholt abgesagt worden: 2005 wurde der damalige Wirtschaftsminister Deiss ausgeladen, 2003 erging es Aussenministerin Calmy-Rey ebenso.

Grund für die Verstimmungen dürfte die Verurteilung des türkischen Massakers an den Armeniern von 1915 durch das Waadtländer Kantonsparlament und den Nationalrat sein, ebenso die Schweizer Ermittlungen gegen einen türkischen Politiker wegen Verletzung der Rassismus-Strafnorm.

Zum Thema «Revolution des islamischen Rechts – 80 Jahre Schweizerisches ZGB in der Türkei» findet an der Universität Freiburg am 20./21. Oktober 2006 ein Symposium statt.

Bundesrat Christoph Blocher hält am Mittwoch in Ankara an einem Symposium zum Inkrafttreten des Zivilgesetzbuches vor 80 Jahren ein Referat.

Während seines eintägigen Besuchs trifft der Schweizer Justizminister auch seinen türkischen Amtskollegen Cemil Cicek, Innenminister Abdulkadir Aksu und Tülay Tugcu, die Präsidentin des Verfassungsgerichts.

Blocher besucht auch das Mausoleum von Mustafa Kemal Atatürk, dem Gründer der modernen Türkei.

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