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Als die Schweiz das Zentrum des Antikommunismus war

Genfer Strassenszene im Jahr 1920
Genf im Jahr 1920, einige Jahre bevor dort die antikommunistische Internationale Entente gegründet wurde. Keystone

Vor hundert Jahren wurde die Entente internationale anticommuniste gegründet. Sie wurde vom Genfer Anwalt Théodore Aubert ins Leben gerufen, um die Arbeit der Kommunistischen Internationalen zu vereiteln. Ihre Nähe zu faschistischen und nationalsozialistischen Regimen hat ihren Niedergang beschleunigt.

Am 23. Juni 1924 wird in Paris eine internationale Konferenz eröffnet, die den Grundstein für die Entente internationale anticommuniste (EIA) legen sollte. In den Räumen der Union Internationale de la Propriété Bâtie in der Rue Sédillot treffen sich Vertreter:innen aus fast ganz Europa.

Unter den Teilnehmer:innen sind der britische General Prescott-Decie, der französische Anwalt und Schriftsteller Jean Larmeroux, aber auch Alexander Gutschkow, der 1917 Minister der von den Bolschewiki gestürzten provisorischen russischen Regierung war. Und schliesslich der Schweizer Théodore Aubert, der die Debatten leitet.

Die Lage ist ernst, zumindest in den Augen der Gäste: Die Komintern – die von Moskau aus gelenkte Dritte Internationale – wird als Todfeind ausgemacht, der verdächtigt wird, ganz Europa zum Bolschewismus bekehren zu wollen.

Jede Spur von Kommunismus oder Sozialismus muss bekämpft werden, zum Beispiel in Grossbritannien, wo die Labour Party gerade an die Macht gekommen ist.

Die EIA «bekämpfte systematisch jeden Versuch, das politische Leben zu demokratisieren oder den Wirtschaftsapparat zu sozialisieren, indem sie diese Reformen als Zugeständnisse an den Kommunismus oder die marxistische Doktrin darstellte», erklärt der Genfer Historiker Michel Caillat, der seine Doktorarbeit der EntenteExterner Link gewidmet hat.

Théodore Aubert war das «Gehirn» der EIA, ein bekannter Genfer Rechtsanwalt. Im Jahr 1924 hat Aubert als Konservativer, der sich von einer sozialistischen Bedrohung verfolgt fühlt, bereits seine Sporen verdient: Gonzague de Reynolds Neue Helvetische Gesellschaft, die Demokratische Partei, die Union Civique Suisse (UCS): Der Anwalt ist in allen Kreisen des helvetischen Konservatismus gut vernetzt.

Im Internationalen Komitee vom Roten Kreuz (IKRK), im Alpenverein, in der Studentenverbindung Zofingia, aber auch im Journal de Genève rekrutiert er die zukünftigen Mitglieder der EIA.

Ein Attentat zur rechten Zeit

Am 10. Mai 1923 schlägt seine grosse Stunde. Der sowjetische Diplomat Vatzlav Vorovsky wird im Speisesaal des Hotels Cécil in Lausanne aus nächster Nähe erschossen. Der Mörder heisst Maurice Conradi, ein Schweizer, dessen Familie im 19. Jahrhundert nach Russland ausgewandert war und dort von der bolschewistische Revolution bis ins Mark erschüttert wurde.

Die Ermittlungen ergeben bald, dass Conradi die Hilfe von Arcadius Polunine, dem Sekretär des russischen Roten Kreuzes in Genf, in Anspruch genommen hatte. Das Rote Kreuz wird von Georges Lodygensky geleitet, der sich weigert, dem sowjetischen Roten Kreuz Platz zu machen. Um Polounine zu verteidigen, wendet sich Lodygensky an seinen Freund Théodore Aubert.

«Dieser Prozess wird nicht der Prozess von Polounine und Conradi sein, sondern der des Bolschewismus», warnt Aubert. Er überzeugt die Geschworenen, dass sich die beiden Männer nur gegen ein verbrecherisches Regime gewehrt haben. Sie werden freigesprochen. Auberts Plädoyer wird zum antikommunistischen Manifest.

Lesen Sie hier mehr über die «Affäre Conradi»:

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Die Entente internationale anticommuniste, angeführt von Aubert und seinem Leutnant Lodygensky, versucht, die globale Elite zu vereinen. Diskret, indem sie die Kunst der Geheimhaltung kultiviert.

Der Genfer Bankier Gustave Hentsch ist bereit, der EIA beizutreten, aber nur unter der Bedingung, dass seine Mitarbeit nicht öffentlich gemacht wird. «Von Anfang an waren die Beratungen der Gründer der EIA von Geheimhaltung geprägt, einer der Grundzüge der Tätigkeit, die die EIA im Laufe ihrer rund 25-jährigen Existenz entwickeln sollte», schreibt Michel Caillat.

Aus Angst, von der Komintern ins Visier genommen zu werden? In der Absicht, in die politischen Systeme Europas einzudringen? Aubert behauptete, 1926 einem Attentat zum Opfer gefallen zu sein, eine Geschichte, die Michel Caillat skeptisch stimmt. «Die Komintern war mehr damit beschäftigt, Trotzkisten aufzuspüren, als die EIA zu verfolgen», sagt der Historiker.

Dieser Geheimhaltungskult erschwert die Arbeit der Historiker:innen. Als der alternde Aubert in den 1950er-Jahren das Archiv der EIA der Bibliothèque publique et universitaire (BPU) in Genf anvertraute, tat er dies unter der Bedingung, dass es nicht in die Hände eines Philokommunisten oder gar eines Atheisten gelangen dürfe. Die Papiere verrotteten etwa 40 Jahre lang in einem Schrank der BPU, bevor sie von Historiker:innen aus freien Stücken in Besitz genommen wurden.

Porträt von Théodore Aubert
Théodore Aubert 1939. Atelier Boissonnas/CC BY-SA 4.0

Der gefährliche Dr. Starobinsky

In den 1920er-Jahren spannt die Entente ihr Netz gegen die «rote Gefahr». Das Netzwerk stellt sich als eine Art Spiegelbild der Komintern dar, indem es seine Struktur an die des Feindes anpasst, einschliesslich des Frauenkomitees, der kulturellen Aktion usw. Die EIA verfolgte aber auch Kommunist:innen in der Schweiz.

Im Juni 1925 meldete Aubert dem Völkerbund in Genf die verdächtige Anwesenheit eines gewissen Aaron Starobinsky. Dieser angeblich von den Bolschewiken beauftragte Arzt «behauptete, freien Zugang zu allen Büros des Völkerbundes und des Internationalen Arbeitsamtes zu haben», denunzierte ihn Aubert.

«Gleichzeitig unterhält er Kontakte zu den Freimaurern, in deren Kreis er von Rabbi Ginsburger, dem derzeitigen Oberrabbiner in Brüssel, eingeführt wurde.» Eine Notiz, die viel über die Obsessionen des Genfers aussagt.

Als der Arzt und Vater des grossen Ideenhistorikers Jean Starobinski, seine Einbürgerung beantragt, schickt die EIA dem Genfer Einbürgerungsamt ein belastendes Dossier, das den russischen Emigranten zum stellvertretenden Leiter des sowjetischen Roten Kreuzes macht, obwohl er diesem nur als Dolmetscher gedient hat. Sein Einbürgerungsgesuch wird zweimal abgelehnt.

In den Archiven der EIA gibt es viele Lücken, besonders in den Jahren 1933-1945. Ein Zeichen dafür, dass nicht alle Papiere aufbewahrt werden sollten. Denn 1933 begrüsst die Entente die Machtergreifung Hitlers. «Von unserem strikten Standpunkt aus müsste man sich über die gegenwärtige Solidität der Nazi-Regierung freuen, die mit der gleichen Energie die Ausrottung der kommunistischen Gefahr vorantreiben wird», schreibt der Pariser Korrespondent, Major Terres.

«Aber werden die Hitleristen weise sein? Wenn sie es nicht sind, werden wir in politischer Hinsicht letztlich alle schlechte Spekulanten sein, da aus einem möglichen Krieg fatalerweise die Revolution hervorgehen wird.» Mit anderen Worten: Die Nazis sind willkommen, wenn sie uns vor der kommunistischen Gefahr bewahren.

Churchill zieht sich zurück

Die EIA kompromittiert sich, indem sie die faschistischen und nationalsozialistischen Regime unterstützt. Eine ziemlich logische Kompromittierung, meint Michel Caillat.

«Die EIA hat nie versucht, Sozialdemokrat:innenen oder Freisinnige für sich zu gewinnen. Als Konservative umgab sie sich nur mit Nationalisten. Aber Anfang der 1930er-Jahre kehrte jeder Nationalist nach Hause zurück und setzte sich für sein eigenes Land ein. Winston Churchill trat aus der EIA aus, und 1936 verliess die Herzogin von Atholl die Entente mit dem Vorwurf, sie vernachlässige die Nazi-Gefahr. Der antikommunistische ‹Internationalismus› kollidierte mit den europäischen Nationalismen».

Im Kampf gegen den Bolschewismus ist die Bilanz der EIA zumindest in der Schweiz nicht gleich null. So zeigt sich Bundesrat Giuseppe Motta bei der Debatte über den Beitritt der UdSSR in den Völkerbund für die Argumente der Entente empfänglich und stimmt dagegen.»

«Die EIA spielte auch eine Rolle bei der systematischen Ablehnung, die die Bundesbehörden bis 1943 jedem Vorschlag zur Aufnahme normaler diplomatischer Beziehungen mit der UdSSR entgegenbrachten», schreibt Michel Caillat.

Nach dem Krieg geht Aubert in die USA mit dem Traum, dort den Sitz seiner EIA zu errichten. Doch Amerika braucht dieses randständige Bündnis nicht, um im weltweiten Antikommunismus eine wesentlich stärkere Führungsrolle zu übernehmen.

Editiert von Samuel Jaberg, aus dem Französischen übertragen von Michael Heger

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