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Auszeit in der Bahnhofkirche

Für den christlichen Adventskranz hat es in der Bahnhofkirche ebenso Platz wie für Symbole anderer Weltreligionen. Keystone

Vor einem halben Jahr hat die erste Bahnhofkirche der Schweiz in Zürich ihre Pforten geöffnet. Das Angebot wird rege benützt.

Menschen flanieren über den Weihnachtsmarkt, Kinder wagen sich aufs Eisfeld – in der grossen Bahnhofshalle Zürichs ist etwas los. Im Zwischengeschoss hingegen, direkt unter dem Schutzengel von Niki de Saint Phalle, ist es angenehm still: Die Atmosphäre der Kirche strahlt aus. Hier nehmen die Menschen eine Auszeit von der Hektik dieser Welt.

Warmes Kerzenlicht empfängt die Ruhe Suchenden in der Kapelle, Adventskranz und Krippe dokumentieren die Weihnachtszeit der Christen. Symbole anderer Weltreligionen – Islam, Judentum, Hinduismus und Buddhismus – weisen darauf hin, dass Menschen jeden Glaubens willkommen sind. Und sie kommen.

Kapelle am Weg

Täglich besuchen 300 bis 500 Personen die Kapelle, um zu beten oder mit den Seelsorgern Roman Angst und Toni Zimmermann zu reden. Viele kommen nur kurz rein, um eine Kerze anzuzünden, das Weg-Wort – einfache und bildhafte Geschichten – zu holen oder eine Widmung ins Anliegen-Buch zu schreiben.

«Wir wollen eine Kapelle am Weg sein», sagt denn auch Toni Zimmermann. Geradezu phänomenal sei es, was die Leute aus dem Angebot gemacht haben: Einen Raum der Stille, wo sie ihren Glauben leben können – ohne auf ihre Religion festgelegt zu werden.

Nicht aussergewöhnlich ist es deshalb, wenn Christen und Hindi nebeneinander beten oder Muslime ihren Gebetsteppich ausrollen. Die Reaktionen sind überwiegend positiv. Roman Angst erinnert sich nur an eine Begebenheit, als es eine Frau «eine Zumutung» fand, im selben Raum «mit so seltsamen Männern» zu beten. Er habe ihr erklärt, dass die Kapelle eben auch Orthodoxen und Muslimen offenstehe.

Diskussionen mit bekennenden Atheisten

Fünf bis sechs Gespräche führen Roman Angst und Toni Zimmermann täglich. Eine junge Frau etwa sei einer Passantin gefolgt, die sie nach der Kapelle gefragt habe. Von deren Existenz habe sie bis dahin nichts gewusst. Und im Gespräch mit Zimmermann habe sich dann herausgestellt, dass sich die junge Frau mit Selbstmordgedanken trug.

Um Probleme rund um die Arbeit oder um Beziehungsfragen drehen sich die meisten Gespräche, einen Bezug zur Religion haben sie immer. Zu spüren sind laut Toni Zimmermann auch die Ängste und Zweifel der Leute. Dies habe mit den Katastrophen in den letzten Monaten zu tun, vor allem aber mit dem Herbst und Winter, wenn viele Menschen Depressionen haben.

Diskussionen mit Esoterikern und Menschen, die aus der Kirche ausgetreten oder bekennende Atheisten sind, seien sehr spannend, sagt Roman Angst. Und Christen nehmen die offene und interkonfessionelle Atmosphäre als Chance wahr, endlich einmal zu sagen, was ihnen an der «Institution Kirche» nicht passt.

Zusatzmodell zur Gemeinde

«Was wir hier machen, wäre in jeder Kirchgemeinde möglich», meint Roman Angst, der die Bahnhofkirche als Zusatzmodell sieht. Der Vorteil der Bahnhofkirche sei, dass die Menschen nicht nur am Sonntagmorgen kommen können, sondern wenn sie etwas auf dem Herzen haben. Und die Anonymität baue zusätzlich Hemmungen ab.

Der Aufbau der Bahnhofkirche ist abgeschlossen. Neben den beiden Seelsorgern arbeitet hier ein Team von 20 bis 25 Freiwilligen. Getragen wird das vorderhand bis 2004 befristete Projekt von den beiden Landeskirchen. Im nächsten Jahr aber werde die Präsenz der anderen Religionen verstärkt, erklärt Zimmermann.

swissinfo und Petra Stöhr (sda)

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