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Carl Lutz: Der mutige Diplomat aus dem Appenzell

Carl Lutz vor einer Sonderbriefmarke der Schweizer Post. Historisches Museum St. Gallen

Mehr als 60'000 Budapester Juden hat der Schweizer Konsul im 2. Weltkrieg vor dem Tod bewahrt – mit Zivilcourage und unbürokratischen Massnahmen. Dies dokumentiert eine Foto-Ausstellung in St. Gallen.

Die Bilder stammen grösstenteils von Carl Lutz selber. Sie erzählen, begleitet von Texten, die Geschichte der Kriegsjahre und der Rettung ungarischer Juden.

«Die Panik wuchs von Tag zu Tag, von Stunde zu Stunde. Täglich standen Hunderte von hilfesuchenden Menschen vor unseren Büros.» Dieses Zitat steht unter der Aufnahme einer Menschenansammlung vor der Schweizer Gesandtschaft in Budapest.

Der Diplomat Carl Lutz leitete dort seit 1942 die Abteilung für fremde Interessen. Er vertrat auch die USA, Grossbritannien und zehn weitere Staaten.

Unter dem Titel «Visa retten Leben – Carl Lutz» zeigt die von der Historikerin Nathalie Bodenmüller überarbeitete Ausstellung im Historischen und Völkerkundemuseum in St. Gallen die Rettungsaktion für über 60’000 meist jüdische Menschen, die der Schweizer Carl Lutz zusammen mit seinen Mitarbeitern mit viel Mut und diplomatischem Geschick in die Wege geleitet hatte.

«Er war ein sehr interessierter und sensibler Mensch, der aus einem gläubigen Milieu stammte», sagt Nathalie Bodenmüller vor über 30 Besucherinnen und Besuchern. Die meist älteren Leute hören den Erläuterungen der Historikerin andächtig zu. Viele kennen die Geschichte des mutigen Schweizers und haben den Krieg als Kind selber miterlebt, die meisten stammen wie Carl Lutz aus der Ostschweiz.

Akt der Menschlichkeit

Bis 1944 galt Ungarn als weitgehend sicheres Land für Juden, obschon sie auch hier unter Schikanen und Rassengesetzen zu leiden hatten. Konsul Lutz setzte sich schon früh für jüdische Kinder und Jugendliche ein, indem er zwischen 1942 und 1944 Schweizer Schutzbriefe verteilte. Diese Aktion basierte auf so genannten «Palästina-Zertifikaten» und berechtigte zur Ausreise ins britisch kontrollierte Palästina.

Als im März 1944 die Nazis in Ungarn einmarschierten, änderte sich das Leben der Juden dramatisch. Die Gesandtschaft von Carl Lutz sei Tag und Nacht belagert worden, die Menschen hätten in Angst nach einer Lösung gesucht, um zu überleben, so Bodenmüller.

«Lutz war kein kaltschnäuziger Mensch. Er konnte nicht sagen, ‹das geht mich nichts an›, sondern fühlte sich bewegt und wollte helfen», erklärt die Historikerin.

Lutz gab ein Vielfaches der ihm zustehenden Schutzbriefe heraus, obwohl nicht genügend Auswanderungs-Zertifikate vorhanden waren. Zudem trug er die Namen der Träger dieser Briefe auf Kollektivpässen ein, 1000 und mehr Leute auf einem Pass. «Es schien dann, als wären diese Leute Schweizer und stünden unter dem Schutz der Schweiz.»

Tausende dieser Schutzbriefträger wurden in 76 Schweizer Häusern untergebracht. Vorangegangen waren zähe Verhandlungen mit deutschen und ungarischen Vertretern. Die Aktion wurde von Lutz› Frau, seinen Mitarbeitern, anderen neutralen Gesandtschaften wie der schwedischen, dem IKRK und dem päpstlichen Nuntius unterstützt.

Zeitdokumente

Die ausgestellten Fotos zeigen Carl Lutz mit Familie, die belagerte und später zerbombte Gesandtschaft, zerstörte Häuser und Ruinen in Budapest. Die meisten Bilder stammen von Lutz selber.

«Lutz war ein begeisterter Hobby-Fotograf. Er hat viel fotografiert, Landschaften und Leute. Die Qualität ist gut, manchmal etwas unscharf, vielleicht weil es oft schnell gehen musste und man immer in Gefahr war», schätzt Bodenmüller.

Nebst einer Briefmarke der Schweizer Post zu Ehren von Carl Lutz aus dem Jahr 1999, Medaillen, Orden und einem Schutzbrief aus dieser Zeit sind auch private Exponate in die Ausstellung eingebaut worden, so eine Kamera: Ob es jene ist, mit der Lutz in Budapest seine Bilder schoss, konnte nicht eruiert werden.

Späte Würdigung

62’000 Juden hat Carl Lutz retten können, über 400’000 ungarische Juden wurden 1944 umgebracht. «Lutz ist in Budapest noch immer ein Begriff, er ist viel präsenter als in der Schweiz» sagt Nathalie Bodenmüller.

2005 wurde in Budapest die Dauerausstellung «Carl Lutz und die ungarisch-jüdischen Pioniere» eingerichtet und ein Jahr später eine Gedenktafel für den Appenzeller eingeweiht. Für seinen Mut wurde er nach dem Krieg verschiedentlich geehrt, so auch in den USA und in Israel.

Nicht so in seiner Heimat: Hier wurde er wegen Kompetenzen-Überschreitung gerügt, durfte aber im diplomatischen Dienst bleiben. Bis zu seiner Rehabilitation sollte es aber noch eine Weile dauern. Erst 1995 – 20 Jahre nach Lutz› Tod – würdigte ihn Bundespräsident Kaspar Villiger an der Feier zum 50-jährigen Kriegsende.

swissinfo, Gaby Ochsenbein, St. Gallen

Carl Lutz wird 1895 im appenzellischen Walzenhausen geboren.
Er wächst in religiösem Milieu auf, seine Eltern sind überzeugte Methodisten.

Mit 18 Jahren wandert er in die USA aus.
Ab 1920 arbeitet Lutz in der Schweizer Gesandtschaft in Washington, später in den Konsulaten von Philadelphia und St. Louis.

1935 heiratet er Gertrud Fankhauser.
Es folgen Einsätze in Palästina und Tel Aviv.

1942 wird Lutz Leiter der Abteilung fremde Interessen der Schweizer Gesandtschaft in Budapest.
Er vertritt auch die Interessen der USA, Grossbritanniens und 10 weiterer Staaten.

Mit «manipulierten» Schutzbriefen rettet Carl Lutz über 60’000 Juden das Leben.
Nach Ende des Krieges wird er für seine Kompetenz-Überschreitung von der Schweizer Regierung gerügt.

Die Ehe mit Gertrud wird geschieden. Carl Lutz heiratet ein zweites Mal.

1995, 20 Jahre nach seinem Tod, würdigt Bundespräsident Kaspar Villiger Lutz› damaliges Handeln.

Die Fotoausstellung «Visa retten Leben» im Historischen und Völkerkundemuseum St. Gallen dauert bis zum 18. Februar 2007.

Die Wanderausstellung war seit 1998 bereits in Los Angeles, London, New York, Tel Aviv, Jerusalem und Basel zu sehen.

Sie wird von der Kulturstiftung Pro Helvetia unterstützt.

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